Totalversagen der EU
Der Libanon hat Flüchtlingen aus Syrien 700 mal mehr geholfen als Europa, sagt Amnesty-Chef Heinz Patzelt. | ANDERE ÜBER… Kommentar von Heinz Patzelt
Ich sage ganz offen: Ich finde es widerwärtig, nicht nur von der spezifisch österreichischen, sondern von der Politik der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die so gerne eine Wertegemeinschaft sein wollen, dass man das Ertrinken im Mittelmeer dafür einsetzt, den Flüchtlingszugang nach Europa zu limitieren. Das wirklich engagierte Projekt Mare Nostrum der italienischen Marine, der Küstenwache und des Staates wurde von der EU sogar abgedreht und durch einen neuerlichen Frontex-Einsatz ausgetauscht. Die Devise lautet jetzt wieder abschrecken – unter jeder denkbaren Form von Völkerrechtsbruch. Auf Ertrinkungstod statt Asylverfahren zu setzen ist wirklich das widerwärtigste, was bisher in diesem Bereich passiert ist. Das ist ein totales humanitäres Versagen der reichsten Gegend der Welt gegenüber einem ganz kleinen Anteil von Flüchtlingen aus den barbarischsten Zuständen. Wie kann sich ein europäischer Politiker noch in den Spiegel schauen, der solchen Programmen zustimmt? Die Politik redet der Bevölkerung dabei ständig ein, dass Europa einen großen Teil der Flüchtlingshilfe leistet. Und es finden sich Medien, die diesen tödlichen Schwachsinn auch noch reproduzieren. Wichtig wäre, der Bevölkerung klar zu machen, wie klein das Problem für uns ist. Und in welchem Ausmaß man in Afrika hilft, in Tansania, einem der ärmsten Länder der Welt, wo man Hunderttausende Flüchtlinge notdürftig aber mit offenem Herzen aufgenommen hat. Oder im Libanon, wo eine Million Flüchtlinge leben.
Der Libanon, der wirtschaftlich selbst schwer angeschlagen ist, hat 715 mal mehr Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen, als es in den vergangenen drei Jahren in der gesamten EU Asylanträge von und Resettlementplätze für Syrer gegeben hat. Bislang haben die Regierungen der EU – abgesehen von Deutschland – erst 0,17 Prozent der fast vier Millionen Flüchtlinge dauerhaften Aufenthalt zugesagt. Ich halte die Panikmache in Österreich und die Forderung von vermehrten Grenzkontrollen für hochgradig lächerlich. Unser aktuelles Betreuungssystem ist auf ca. 40.000 Betroffene ausgerichtet, es kann den derzeit vorhersehbaren Bedarf also problemlos abdecken. Allein wenn Niederösterreich seinen Job machen würde, wäre das Problem um 2.000 Leute kleiner. Alle Bundesländer könnten mehr leisten, wenn nicht ständig getrommelt würde, dass es dabei um eine Belastung für die Gemeinden geht. Und wenn Österreichs Außenminister, der in der Krisenregion war, darauf hinweist, dass man 1 Mio. Euro zur Verfügung gestellt hätte, dann kann ich darauf nur antworten: Schauen Sie sich die österreichischen Budgetzahlen an. Wer nicht mehr als diesen Betrag zustande bringt, sollte besser gar nicht darüber reden. Natürlich ist 1 Mio. Euro für einen Arbeitslosen viel, aber man sollte das in Relation zu den Milliarden-Beträgen setzen, die für den einen oder anderen politischen Zweck vergeben werden. Man versucht sich hier, mit Dumpingpreisen freizukaufen. Bis jetzt haben es 5-6.000 syrische Flüchtlinge tatsächlich nach Österreich geschafft und die Reaktion einiger Landeshauptleute ist, das Bundesheer an die Grenzen zu stellen. Anstatt die Leute so gut wie möglich zu versorgen, so dass die einmal durchatmen können. Es geht hier auch um Mütter und ihre Kinder. Ob Anspruch auf Asyl besteht, kann danach immer noch geprüft werden. Ich gebe zu, das alles macht mich wirklich zornig. Die EU-Staaten produzieren Richtlinien zur Asylgesetzgebung und höhlen sie mit der größten Selbstverständlichkeit wieder aus. Allein die Kurden haben zehntausende Menschen aufgenommen, der kurdische Außenminister meinte: Wir wissen, was es heißt, vertrieben zu werden. Dort fragt niemand danach, ob jemand Christ, Moslem, Kurde oder Atheist ist. Dort bietet man mit einfachsten Möglichkeiten Schutz. Während Europa unter einer lächerlichen Anzahl an Betroffenen ächzt.
ZUR PERSON
Heinz Patzelt
Heinz Patzelt, 1957 in Wien geboren, ist Jurist und seit 1998 Generalsekretär von Amnesty International Österreich. Davor hat er in einer Anwaltskanzlei, einer Werbeagentur und einem Software-Unternehmen gearbeitet. Er war viele Jahre ehrenamtlich bei den Maltesern als Rettungsfahrer, in der Behinderten-Betreuung und im Katastrophenschutz im Einsatz
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