Höfliche Nichtbeachtung
Im Aufzug entdeckt man das Gute am Nebeneinander. Aber nicht nur. | POPULÄR GESEHEN, eine Kolumne von Martin Schenk
Ich steige in den Aufzug. Jeder Mensch macht das einmal in 72 Stunden. Durchschnittlich. Ich bin nicht allein. Noch wer anderer fährt in den dritten Stock. Ich nicke. Der andere auch. Dann schauen wir aneinander vorbei. Ein unangenehmes Gefühl beschleicht mich. Soll ich etwas sagen? Ich sage nichts.
Im Fahrstuhl entsteht eine Öffentlichkeit, in der man anderen mit einem gewissen Grad an Desinteresse entgegentritt, ohne jedoch Missachtung zu signalisieren. Eine höfliche Nichtbeachtung ist das. Der Soziologe Georg Simmel hat das vor hundert Jahren kommen sehen: „Vor der Entwicklung der Omnibusse, der Eisenbahnen, der Tramway waren die Leute nicht in die Lage gekommen, lange Minuten oder gar Stunden sich gegenseitig ansehen zu müssen, ohne aneinander das Wort zu richten.“ Ohne die Leistung der Bekanntschaftsvermeidung gibt’s keine Individualisierung. Ohne höfliche Nichtbeachtung gibt’s keine moderne Gesellschaft. Im Fahrstuhl entdeckt man das Gute am Nebeneinander.
Das verlogene Miteinander tut nicht gut. Sei es das „Volk“, das zusammenstehen soll, seien es „die Gläubigen“, die alle eins zu seien haben. Die Verwechslung von Gesellschaft mit Gemeinschaft erzeugt ganz schön viele Probleme. Während Gemeinschaften auf persönlichen Beziehungen, verbindender Gesinnung in Familie und Verein beruhen, besteht Gesellschaft aus einem Kreis anonymer Individuen, verbunden mit dem Vertrag. Es ist keine Lösung, dass alle in einer Welle von Gemeinschaft verpflichtet werden, sich Traditionen zu unterwerfen, von denen sie sich gelöst haben oder die nie die ihren waren. Die vorgekünstelte Einheit von quasi familiärer Gemeinschaft im nationalen Großsystem – die Zustimmung sichern will, indem sie Konflikte leugnet – macht Demokratie nicht sichtbar. Sie ist aber auch deshalb problematisch, weil die Rückführung von Gesellschaft in Gemeinschaft äußerst repressive Folgen für die BürgerInnen haben kann. Menschen müssen die Freiheit haben, sich gegen Herkunft oder traditionsbedingte Vorgabe entscheiden zu können. Das ist die Grundlage für die demokratische Verfasstheit einer Gesellschaft und wichtig, weil es zeigt, dass wir mehrere Identitäten mit unserer je eigenen Geschichte, unserem Geschlecht, unserer Schichtzugehörigkeit aufweisen. Und Menschen entscheiden können, dass ihre ethnische oder kulturelle Zugehörigkeit weniger wichtig ist als ihre politische Überzeugung, ihre Rolle als Frau oder gewählte Freundschaften. Wir erreichen den dritten Stock. Im Aufzug entdeckt man das Gute am Nebeneinander. Aber auch das Gegenteil, die Möglichkeit zu kommunizieren. Begegnungen im Fahrstuhl dauern schlicht zu lang, um die höfliche Nichtbeachtung aufrechterhalten zu können. Es ist ein ziemlicher Aufwand, sich in einer Begegnung nicht zu begegnen. Die Verlegenheit ist ein Störenfried im Nebeneinander, ein Hinweis auf unsere Beziehungsfähigkeit.
Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich.
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