Das Blaue vom Himmel
Die Parteienbindung sinkt notorisch. Werden wir damit ein Stück freier oder bloß für Populismus empfänglicher? Das Projekt AUTNES untersucht derzeit unser Wahlverhalten. Text: Sonja Dries, Illustrationen: Eva Vasari
Am 11. Oktober heißt es für die Wienerinnen und Wiener wählen gehen. Landtag, Gemeinderat und Bezirksvertretung müssen neu legitimiert werden und die Parteien befinden sich noch mitten im Wahlkampf. Das Ergebnis könnte knapp ausfallen, glaubt man den Umfragen verschiedenster Institute. Doch, dass diese auch ganz falsch liegen können, zeigen gerade in letzter Zeit eklatante Fehlprognosen, wie in Großbritannien, wo die Konservativen völlig überraschend einen klaren Sieg errangen. Das Wahlverhalten der BürgerInnen hat sich auch in Österreich verändert und das ist vor allem auf die Abschmelzung der Parteienbindung zurückzuführen. Konnten sich in den 1970er Jahren noch bis zu 65 Prozent mit einer bestimmten Partei identifizieren, waren es laut einer EU-Wahl-Analyse des Politologen Fritz Plasser und des Meinungsforschers Franz Sommer im letzten Jahr nur noch 42 Prozent. Das spiegeln auch die Mitgliederzahlen der einzelnen Parteien wieder, die in den letzten Jahren immer weiter zurückgehen. Die Mitgliederbasis der SPÖ schrumpfte beispielsweise seit den siebziger Jahren um 70 Prozent. Waren es 1979 noch 721.262 Mitglieder sind es heute rund 240.000. Guido Tiemann, Professor für Politikwissenschaft am Institut für Höhere Studien (IHS), begründet diese Entwicklung damit, dass es heute weniger Vorteile hat, Mitglied einer Partei zu sein. Lange hatten die Großparteien ÖVP und SPÖ die Möglichkeit die Wählerbeziehung durch materielle Benefits wie Wohnungen oder Jobs zu stabilisieren, während es anderen Parteien an Verflechtungen mit dem Staatsapparat in Verwaltung, öffentlicher Wirtschaft und Bildungswesen fehlte. Das ist heute vorbei.
Traditionelle Spannungslinien weichen auf
Doch was wünschen sich die WählerInnen heute von ihrer Partei und wie kann man ihre Entscheidung am Wahltag erklären? Ein Projekt, das sich bereits seit 2009 mit diesen Fragen beschäftigt ist AUTNES, Austrian National Election Study. Rund 20 WissenschafterInnen untersuchen im Rahmen der österreichischen Wahlstudie WählerInnen, Parteien und Massenmedien auf ihren Einfluss auf die Wahl. Eine von ihnen ist Kathrin Thomas, promovierte Politologin. Sie ist bei AUTNES für die „demand side“, also das Wahlverhalten der WählerInnen zuständig. Anhand von Online-Umfragen, Telefongesprächen und persönlichen Kontakten, aber auch Experimenten untersuchen sie und ihre KollegInnen, wie sich politische Einstellungen und Motive der Menschen verändern. Bedeutende Charakteristika zur Beschreibung des Wahlverhaltens sind demographische Faktoren wie Geschlecht, Alter, soziale Klasse und Religion. Laut der Cleavage-Theorie gibt es bestimmte Konflikt- und Spannungslinien in einer Gesellschaft, die besonders bei der Wahl zum Tragen kommen. In Österreich sind das traditionellerweise die konfessionelle Konfliktachse und der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital („class cleavage“). Was die Kirchenbindung angeht, ist sie auch heute noch ein entscheidendes Motiv bei der Wahl der ÖVP. Bei der AUTNES-Befragung zur Nationalratswahl 2013 stuften sich 73 Prozent der ÖVP-WählerInnen als zumindest „eher religiös“ ein. Alle anderen Parteien wiesen deutlich weniger bekennende Gläubige in ihrer WählerInnenschaft auf.
Ganz anders sieht das beim class cleavage aus. Lange Zeit galt die SPÖ als die Partei für die ArbeiterInnen, laut Kathrin Thomas hat sich die FPÖ mittlerweile aber als relevante Alternative für diese Gruppe entwickelt. Bei den vergangenen Nationalratswahlen waren die Freiheitlichen mit 33 Prozent sogar die stärkste Partei bei den ArbeiterInnen noch vor der SPÖ (24 Prozent). Thomas und das Team von AUTNES gehen davon aus, dass das keine einmalige Sache war, sondern sich mittelfristig etablieren werde.
Bei den älteren Generationen haben die traditionellen Spannungslinien sowie Parteibindungen hingegen immer noch Bedeutung. Guido Tiemann vom IHS sagt, dass die ältere Generation bei den letzten Wien-Wahlen quasi die Rettung der SPÖ war. Jüngere BürgerInnen wählen eher situationsbedingt. Sie lassen kurzfristige politische Sachfragen in ihre Wahlentscheidung einfließen und sind somit auch anfälliger für Kampagnen und Mobilisierungsversuche kurz vor der Wahl. Das funktioniert laut Thomas am besten durch persönlichen Kontakt: Ein direktes Gespräch mit einem Parteifunktionär hat weit mehr Einfluss auf die Wahlentscheidung als ein Flyer im Briefkasten; und auch positive Berichterstattung in den Medien kann ein Faktor sein.
Thema Zuwanderung statt Wirtschaft
Parteien müssen es schaffen, ihre Position zu Themen, die den BürgerInnen unter den Nägeln brennen, klar darzustellen und zu vertreten. Eines der brennendsten Themen in Zeiten der Finanzkrise ist interessanterweise nicht die Wirtschaft, sondern die Zuwanderung, was vor allem der FPÖ ein Plus bei den WählerInnenstimmen eingebracht hat. Die Partei hat es geschafft, bei vielen BürgerInnen ein Gefühl des „Zu-Kurz-Gekommen-Seins“ zu schaffen und die Schuld dafür auf Einwanderer und Einwanderinnen zu wälzen. Bei den letzten Nationalratswahlen waren es just auch die FPÖ-WählerInnen, die das Zusammenleben zwischen MigrantInnen und ÖsterreicherInnen mit Abstand am schlechtesten beurteilten. Guido Tiemann sieht in der FPÖ die einzige Partei, die die soziale Frage stellt und frustrierten WählerInnen direkt eine Antwort gibt. „Unser Geld für unsere Leute“ werde, so Tiermann, als klare und befriedigende Ansage verstanden. Die Grünen würden in der Wahrnehmung der Leute hingegen immer noch viel stärker mit „Luxusgüter“-Themen wie dem Umweltschutz identifiziert. Die „Luxusgut-These“ in der Politikwissenschaft besagt, dass Belange des Umweltschutzes vor allem ein Anliegen der besserverdienenden Bevölkerungssegmente sei. Daraus ergibt sich eine beschränkte Zahl potenzieller WählerInnen, die es sich leisten können Wert auf diese Dinge zu legen, anstatt selbst um ihre finanzielle Existenz zu fürchten. Das sei auch einer der Gründe, warum ProtestwählerInnen viel öfters rechts und nicht links bzw. liberal ihr Kreuzchen machen.
Wenig Parteibindung, aber effektiver Protest
Rechts ist für ProtestwählerInnen besonders attraktiv. Wer seine Unzufriedenheit darüber ausdrücken möchte, was in seinem Land passiert, wird laut Kathrin Thomas im rechten Spektrum eine besonders effektive Form sehen, um zu zeigen, dass hier etwas schiefläuft. Solche psychologischen Faktoren werden in der politikwissenschaftlichen Forschung immer wichtiger. Auch AUTNES beschäftigt sich mit dem sozialpsychologischen Ansatz, der unter anderem davon ausgeht, dass bestimmte psychologische Mechanismen eine Person politischer machen können, beziehungsweise sie für eine bestimmte Partei wählen lassen. Durch Tests lassen sich Persönlichkeitsmerkmale erkennen, die auf bestimmte politische Präferenzen hinweisen. Je nachdem, ob jemand altruistisch oder egoistisch, gewissenhaft oder fahrlässig, emotional stabil oder neurotisch ist, kann das Wahlverhalten beeinflusst werden. Dieser Ansatz der politischen Psychologie ist in Österreich allerdings noch ziemlich am Anfang.
Mündig oder beeinflussbar?
Es bleibt die Frage, ob die abnehmende Bindung zu einer bestimmten Partei die Menschen nun freier und mündiger macht oder erst recht anfällig für Populismus und Kampagnen. Guido Tiemann sieht mehr Platz für Diskussion und Debatte, jetzt wo viele Menschen nicht mehr blind einer Partei folgen, egal was sie inhaltlich vorbringt. Trotzdem sieht er auch die Gefahr, dass die kurzfristige Wahlentscheidung schneller durch griffige Slogans und auffällige Plakate beeinflusst werden kann. Kathrin Thomas sieht die Entwicklung eher positiv. Parteibindung würde eine klare Linie vorgeben, bei der manche WählerInnen einfach immer mit dem mitstimmen, was ihre eigene Partei macht. Die neue Dynamik von politischer Partizipation, die sich jetzt entwickelt, biete Platz für unkonventionelle Arten der Politik, die sich vor allem in sozialen Netzwerken und bei Demos und Petitionen zeige. Was die Anfälligkeit für Populismus angeht, will Kathrin Thomas den Glauben in die WählerInnen nicht verlieren und spricht ihnen auch weiterhin zu, mündig genug zu sein, um auf rationaler Basis zu entscheiden. Die Wien-Wahl wird zeigen, ob sie Recht behält.
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