„Das ist Zukunftsraub“
DOSSIER BILDUNG. Ob man Türkisch als Maturafach zulassen, die schulische Frühselektion in Österreich beenden und die Gesamtschule einführen soll, darüber diskutieren Isabella Leeb, als Gemeinderätin der ÖVP Wien für Bildung zuständig, und Kenan Güngör, Soziologe mit Arbeitsschwerpunkt Integration.
Interview: Gunnar Landsgesell, Alexander Pollak
Es gibt mehr als ein Dutzend Sprachen, die man in Österreich als Maturafach wählen kann, Türkisch ist interessanterweise nicht darunter. Was spricht aus Ihrer Sicht gegen Türkisch als Maturafach?
Leeb: Aus meiner persönlichen Sicht spricht nichts dagegen
Haben Sie eine Erklärung, warum Ihre Partei, die ÖVP, das blockiert?
Leeb: Das kann ich Ihnen nicht erklären.
Woher kommen die Emotionen bei dieser Frage?
Leeb: Das Bildungsthema betrifft als Querschnittsmaterie alle, das ist wie im Fußball. Bei einem Ländermatch haben wir so viele Fußballexperten wie Staatsbürger. Jeder fühlt sich irgendwie betroffen.
Türkisch ruft über das Bildungsthema hinaus starke Emotionen hervor. Wir erinnern an die ‚Affäre‘ rund um ein Nömix-Getränk, das auch eine Aufschrift auf Türkisch hatte …
Leeb: Die Milchgeschichte? Das fand ich sehr charmant, weil ich jetzt auf Türkisch wenigstens ein Wort kenne, nämlich „Milch“.
Güngör: Man muss grundsätzlich sagen, dass wir alle keine emotional egalitäre Bewertung von Kulturen und Sprachen haben. Jeder hat Priorisierungen, etwa von Lieblingsurlaubsländern bis zu Bevölkerungsgruppen, von denen man sich abgrenzt. Die Türkenfeindlichkeit hat, gekoppelt mit einer Islamfeindlichkeit, eine starke Tradition und wird auch stark instrumentalisiert. Das spiegelt sich in der Frage des Maturafachs wider.
In Deutschland, wo es seit mehreren Jahren Türkisch als Maturafach gibt, sagen Experten, die Muttersprache perfekt zu beherrschen ermögliche auch, die andere Sprache, Deutsch, zu beherrschen. Stimmen Sie zu?
Güngör: Da ist was dran, dieser Aspekt wird aber zu stark bewertet. Diese Diskussion wird sehr ideologisch geführt, denn es gibt wesentlich mehr Faktoren, die für das Erlernen einer Sprache eine Rolle spielen. Mir ist es aus einem anderen Grund wichtig, die Mehrsprachigkeit zu erhalten. Allein die Möglichkeit, von der Wiege auf eine Sprache gut zu können und dazu zweisprachig zu sein, das halte ich für einen Schatz. Das sollten wir als Kulturkapital verstehen. Der zweite Punkt ist, es geht auch um Anerkennung. Alles was man als Jugendlicher an Kultur mitbringt, wird entweder nicht beachtet, und wenn, dann wird es problematisiert. Kindern wird das Gefühl vermittelt, sie seien Defizitträger. Nach der Logik: Nur wenn ich mich zum Prototyp eines Österreichers entwickle, werde ich als vollwertiger Mensch wahrgenommen. Diese Kränkung halte ich für viel entscheidender als den möglichen Zusammenhang zwischen Erst- und Zweitsprache.
Leeb: Ich gebe Ihnen recht, Mehrsprachigkeit ist ein großer Wert. Ich habe eine Baufirma, bilde dort Facharbeiter aus. Die Mehrheit der Lehranwärter hat Migrationshintergrund. Viele von ihnen machen große Karriere, weil sie nicht nur sehr gut Deutsch sprechen, sondern auch ihre Muttersprache. Deswegen werden viele von großen Industriefirmen für Auslandsjobs angeworben. Die Muttersprache nicht zu vernachlässigen, liegt aber primär in der Verantwortung der Eltern. Das gilt für Zuwanderer, aber auch für Österreicher, die auswandern. Mein Onkel ist 1959 nach Australien gegangen, meine beiden Cousinen haben in der Schule Englisch gelernt und Deutsch zu Hause und im österreichischen Klub. Das halte ich für ganz normal. Aber Unterricht in verschiedenen Sprachen zu halten, ist von der öffentlichen Hand nicht machbar, wir müssen unsere Ressourcen für dringendere Probleme einsetzen.
Wofür konkret?
Leeb: 25 Prozent der Schüler kommen nicht ausbildungsfähig aus der Pflichtschule, das belegen Statistiken. Da müssen wir ansetzen, denn was jetzt passiert, ist Zukunftsraub. In Wien gibt es seit ein paar Jahren Kurse zum Nachholen der Pflichtschulabschlüsse, wo kommen die Kinder bitte her? Die sind nicht alle zugewandert, die haben hier die Pflichtschule besucht. Etwas läuft also dramatisch schief. Als Nächstes kommt die Gratisnachhilfe. Das ist die Bankrotterklärung des Wiener Pflichtschulsystems.
Wo orten Sie die Gründe?
Leeb: Das beginnt bei der Lehrerausbildung und bei Personen, die für den Beruf ungeeignet, aber auch unkündbar sind, und führt weiter über die Verpolitisierung bei Postenbesetzungen und eine Überbürokratisierung des Schulalltages. Statt den Unterricht am Vormittag zu entrümpeln und die Lehrer von Verwaltungsaufgaben freizuschaufeln, führen wir nun Nachhilfeunterricht ein. Und wir brauchen dringend Schulautonomie, weil es nicht sein kann, dass eine Schule im ersten Bezirk genauso ausgestattet ist wie eine in Ottakring, obwohl dort ganz andere Erfordernisse bestehen. Es muss ganz klar am jeweiligen Standort entschieden werden, was für die Schule wichtig ist.
Güngör: Dass wir für Schulstandorte Strategien entwickeln müssen, halte ich für evident. Hauptschulen sind am Land die normalen Regelschulen, da findet die Selektion erst nach der Pflichtschule statt. In den Großstädten werden Hauptschulen aber als Restschulen geführt, hier haben wir eine Bildungsbenachteiligung und eine viel geringere Durchlässigkeit, das ist sehr problematisch. In diesem Zusammenhang ist eine Tendenz relevant, die ich seit etwa 20 Jahren beobachte: dass der Bildungsauftrag zunehmend in die Familien hineinverlagert wird. Ich beobachte an meiner Tochter, die eine fitte Schülerin ist, dass wir täglich eine Stunde nachlernen müssen. Das führt dazu, dass bildungsstarke Familien ihre Kinder fördern können, während bildungsschwache Familien überfordert sind. Ich schätze, dass die Möglichkeit dieser Kinder, beim Stoff mitzukommen, bereits in der Volksschule um 30 Prozent geringer ist. Damit verstärken wir die Produktion von Chancenungleichheit und verhindern sie nicht. Mich wundert, dass dieser Aspekt in der Debatte völlig außer Acht gelassen wird.
Welche Lösungsansätze sehen Sie?
Güngör: Der Schulauftrag muss wieder in das Schulsystem getragen werden, statt ihn auszulagern. Das ist auch der Grund, warum ich eine Ganztagsschule befürworte. Das Bildungskapital der Eltern wird damit stärker ausgeklammert.
Leeb: Ich denke, auch diese Frage muss man nach Standorten, regional beurteilen. In Wien habe ich selbst als Mutter das Bedürfnis nach einer qualitätsvollen Ganztagsbetreuung. Ich bin freiwillig eine Working Mom, aber viele Frauen haben diese Entscheidungsfreiheit nicht, sie müssen arbeiten. Auch deshalb sollte man Probleme in der Schule lösen.
Was halten Sie von der Selektion von Kindern mit neun bis zehn Jahren?
Leeb: Diese frühe Trennung ist nicht förderlich. In kleinen Orten am Land, wo die Mehrheit der Kinder in die Hauptschule geht, findet das so nicht statt. Da ist Durchlässigkeit gegeben. In Wien ist das anders. Deshalb: Solange wir nicht das Thema Mittelschule qualitativ gelöst haben, darf man nicht auch noch das Gymnasium gefährden. Für viele ist das in Wien der letzte Ort, eine gute Ausbildung zu bekommen. Auch Herr Oxonitisch (Wiener Stadtrat für Bildung; Anm.) hat seinen Sohn nicht in die Restschule, sondern ins Gymnasium gegeben.
Güngör: An dieser Stelle möchte ich aber auch meine Skepsis anmelden, ob die Gesamtschule bis zum Alter von 18 Jahren in der Realität so funktionieren wird, wie wir es uns wünschen. Wir müssen die Probleme, auch in migrantisch verdichteten Bezirken, vor allem über Qualität lösen. Meine Position ist: Wir sollten die Gesamtschule riskieren, aber niemand soll heute behaupten, dass sie besser sein wird. Das wird sich empirisch zeigen. Denn die Frage, ob eine Gruppe die andere hinauf- oder hinunterzieht, ist bislang nicht geklärt. Mein Vorschlag zur Problemlösung ist die Kopplung mehrerer Maßnahmen: die Einführung der Ganztagsschule für bis 14-Jährige, die Verringerung der Schüleranzahl in den Klassen und das Ende der Frühselektion, die es von allen OSZE-Ländern nur noch in Deutschland und Österreich gibt. Das ist ein völlig überholtes industriegesellschaftliches Modell. Wir erleben ja gerade deswegen den Ausbau des zweiten Bildungswegs, weil der Lernprozess heute mit 15 Jahren nicht abgeschlossen ist, sondern locker bis 40 reicht.
Wo würden Sie ansetzen, um den Schulbetrieb in weniger bildungsstarken Gebieten zu fördern?
Güngör: Mit dem Gießkannenprinzip kommt man in der Schulstandortdebatte nicht weiter. Bisher ist die Praxis so, dass Schulen angeben können, ob sie erhöhten Förderungsbedarf haben. Natürlich versuchen Schulen, auf diese Weise mehr Mittel zu erhalten. Das ist gut gemeint, aber damit produziert das System selbst sogenannte Problemschulen. Ich halte viel von Sozialraum-Monitoring. Damit kann man relevante Indikatoren wie den Bildungshintergrund der Eltern herausarbeiten. Damit könnte ich sofort auf die jeweilige Situation reagieren.
Leeb: In der Schweiz gibt es ein Modell, das nennt sich Sozialverträglichkeitsfaktor, da fließen all diese Dinge ein. Je nachdem, wie hoch der Faktor angesiedelt ist, erhält die Schule mehr an Schulsozialarbeit. In Wien hat man das Thema vor der Wahl 2010 aufgegriffen, aber nur halbherzig umgesetzt. Wir haben 599 Schulstandorte und 30 Schulsozialarbeiter. Sie haben kaum Mittel zur Verfügung und sind, das ist besonders problematisch, dem Stadtschulrat unterstellt. Damit hat man keine autonome Beratungsstelle für Eltern, Lehrer und Schüler geschaffen, sondern eine weisungsgebundene – wie soll das funktionieren?
Ich fordere, dass die Faktoren, wie sie in der Schweiz angewandt werden, auch bei uns ganz vehement eingesetzt werden, als Basis für eine indexierte Mittelzuteilung. Dafür brauchen wir aber weitgehende Schulautonomie, auch in der Personal- und Lehrerauswahl. Die muss am Standort und vom jeweiligen Direktor erfolgen, völlig autonom.
Wenn man an Klassen denkt, in denen Kinder zu 90 oder 100 Prozent eine andere Umgangssprache als Deutsch haben – würden Sie das als „Ghettoklassen“ bezeichnen?
Güngör: Die Geburtenrate besagt, dass 70 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund haben. Das ist die Normalität, Ghetto wäre also etwas anderes. Selbst eine Klasse mit Kindern, die zu 100 Prozent unterschiedliche Sprachen sprechen, ist kein Problem, sofern sich keine großen Sprachinseln ergeben, denn dann ist die Verkehrssprache notwendigerweise Deutsch.
Anders verhält sich das, wenn sich homogene Sprachinseln bilden, wie das in Kindergärten passiert. Wenn 50 Prozent der Kinder Türkisch und 50 Prozent Serbokroatisch sprechen, hat der Erwerb der deutschen Sprache das Nachsehen. Türkisch als Maturafach finde ich gut, Schulen, in denen nur auf Türkisch unterrichtet würde, nicht. Denn wir müssen darauf achten, dass den Kindern nicht der soziale Kitt fehlt. Gerade wenn Kinder in einer Gesellschaft mit einer hohen Diversität aufwachsen, sollten sie einen größtmöglichen gemeinsamen Sozialisationsraum haben.
In Österreich wird die Schulreife über eine Sprachstandsfeststellung ermittelt. Wer Deutsch spricht, ist schultauglich. Ein Kind, das perfekt Polnisch spricht, aber nicht. Ist das für Sie nachvollziehbar?
Güngör: Wenn die Bildungssprache Deutsch ist, helfen sechs andere hervorragend beherrschte Sprachen nicht. Aber die Realität ist ja anders, Kinder beherrschen teilweise Deutsch und dann noch eine oder zwei andere Sprachen. Wenn man den Wortschatz oder die rhetorische Kompetenz addiert, kommt das Kind ja auch auf einen relevanten Wert. Auf diese Weise wird die Sprachfähigkeit aber nicht ermittelt. Das fehlt mir, diese Kinder werden als Defizitkinder verstanden, obwohl sie den doppelten Wortschatz haben.
Leeb: Das stimmt schon, da wird zu wenig differenziert. Große Probleme bereiten uns aber die Kinder, die als außerordentliche Schüler in den Klassen sitzen. Sie werden dort zwar geduldet, aber es ist schon vorher klar, dass sie keinen positiven Abschluss schaffen werden. Diese Kinder müssen schon massiv vor dem Unterricht gefördert werden.
Würden Sie diese Kinder in getrennte Klassen geben?
Leeb: Eher in Kleingruppen. Kinder, die zum Beispiel mit 12 Jahren nach Wien kommen, werden in die zweite Klasse Hauptschule gesetzt und sind mit der Situation überfordert. Diese Kinder müssen aber nicht nur beim Erwerb der Sprache gefördert werden, man müsste sie auch auf das Leben hier vorbereiten. Die Kinder brauchen ein Gefühl dafür, wo sie wohnen, müssen wissen, wie man öffentliche Verkehrsmittel benutzt.
In anderen Ländern gibt es das Modell, dass man 50 Prozent der Zeit in solchen Kleingruppen verbringt und 50 Prozent im Regelunterricht.
Leeb: Davon halte ich gar nichts. Das Schlimme ist, dass der Deutschunterricht derzeit nicht als Ergänzung zum normalen Unterricht stattfindet, sondern sie werden aus dem Klassenverband herausgerissen. Das halte ich für Unsinn: Ist Biologie oder Chemie nicht wichtig? Die Kinder verlieren ja dadurch zusätzlich den Anschluss im Klassenverband.
Güngör: Ich glaube, dass der konzentrierte Spracherwerb nicht während des Regelunterrichts erfolgen darf. Das muss am Nachmittag passieren. Aber ich habe ein Problem damit, wenn man Kinder zwar nicht separieren will, wie das die Stadt Wien praktiziert, sie zugleich aber immer nur so wenig fördert, dass sie über Jahre als Defizitträger mitgetragen werden. Das gibt auch den Kindern ein Gefühl der Verletzlichkeit, der Angreifbarkeit. Würde Separierung wirklich funktionieren, dann würde ich das befürworten. In Deutschland hat man das mit guten Absichten versucht. Man hat sehr viel Geld für Vorschulklassen investiert und das Ergebnis evaluiert: Nur leider hat es keinen großen Unterschied gemacht.
Fehlt ein praktikables Modell?
Güngör: Der aktuelle Ansatz geht nun dahin, Kinder massiv mit zwei bis drei Stunden Deutschunterricht täglich in einem erweiterten Unterricht zu fördern. Das Ziel muss sein, in den ersten beiden Jahren die Defizite zu beseitigen.
Leeb: Da muss man aber auch den Eltern erklären, dass das nicht auf freiwilliger Basis stattfindet, sondern eine Verpflichtung und essenziell wichtig ist.
Güngör: Ich denke, dass die Eltern darüber ein Bewusstsein haben. Alle Studien besagen, dass die Eltern als die drei wichtigsten Punkte für ihre Kinder nennen: erstens Bildung, zweitens die deutsche Sprache und drittens, dass die eigene Kultur nicht verloren wird. Ich glaube, wir führen bezüglich des Bildungsbewusstseins eine Scheindiskussion.
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