Einer der auszog, um Schlagzeilen zu machen
DOSSIER. Norbert Ceipek, Leiter der „Drehscheibe“, skizziert gerne Bilder von „Roma-Clanchefs“, deren Untergebene auf Wiens Straßen zum Betteln und Stehlen gezwungen werden. Woher bezieht er seine Infos?
Eine Spurensuche von Ulli Gladik.
Norbert Ceipeks Arbeit ist nicht einfach. Als ich die Drehscheibe besuche, ist ein Mädchen anwesend. Eine 13-jährige Rumänin. Sie war mit einer 24-jährigen Frau unterwegs, die beim Stehlen eines Handys erwischt und in Haft genommen wurde. Das Mädchen wurde von der Polizei in die „Drehscheibe“ gebracht und gab an, die Frau wäre ihre Kusine. Norbert Ceipek bezweifelt das, denn das Mädchen konnte den Namen der Kusine nicht buchstabieren. Für ihn ein Indiz, dass sie Opfer von Kinderhändlern ist. Nervös tritt das Mädchen von einem Fuß auf den anderen. „Du musst warten, man weiß noch nichts“, sagt ihr Ceipek im Vorbeigehen, seine Mitarbeiterin übersetzt es ins Serbische.
Fand keine Bedrohung
Die „Drehscheibe“ ist ein Krisenzentrum der MA 11 der Stadt Wien, in der unbegleitete Kinder vorübergehend aufgenommen werden, um sie zu ihren Eltern oder auch in Waisenhäuser rückzuführen. Die Drehscheibe hat eine Kapazität für 14 Kinder. Die Kinder werden hier fotografiert und in die Kartei aufgenommen, ihre Daten an internationale Polizeistellen geschickt, um festzustellen, ob sie anderswo schon aufgefallen sind. „Die meisten Kinder laufen aber gleich wieder weg“, erzählt Ceipek. Kinder, die nicht weglaufen, werden in Partnerkinderheime in ihren Herkunftsländern geschickt. Das betrifft etwa 10 bis 15 Prozent der Kinder, die der Einrichtung im Augarten übergeben werden. Vergangenes Jahr waren es 24. Diese Partnerkinderheime befinden sich in Rumänien, Bulgarien, Bosnien-Herzegowina, Ungarn und in der Slowakei.
Wurden früher vor allem Kinder aus Bulgarien in die Drehscheibe gebracht, waren es im letzten Jahr vermehrt Jugendliche mit bosnischen Pässen. Sie werden von der Polizei beim Stehlen aufgegriffen. Über sie weiß man wenig. Ceipek vermutet, dass sie Opfer eines europaweit agierenden Menschenhändlerrings sind. Die Kinder fühlen sich selbst nicht als Opfer. Doch Ceipek erkennt ein Schema, denn, wie er sagt: „Roma sind in Clans organisiert.“ Und die „Clanchefs“, die unheimlich reich seien, würden ihre „Untergebenen“ ausbeuten. Sie handelten mit Kindern, die dann zum Betteln oder Stehlen gezwungen würden. Einschätzungen dieser Art habe ich in Bulgarien schon oft zu hören bekommen. Als ich dort ein sogenanntes Romaviertel besuchen wollte, warnten mich StudienkollegInnen und ProfessorInnen eindringlich: Die Roma seien eine geschlossene Gesellschaft, und in sie einzudringen wäre höchst gefährlich. Kriminelle Machenschaften und Menschenhandel seien an der Tagesordnung. Als ich die großen Sofioter und Plovdiver Romaviertel besuchte, wurde ich jedoch freundlich aufgenommen. Ich lernte viele Menschen kennen und knüpfte engere Kontakte zu einigen Familien. Später sprach ich mit SozialarbeiterInnen, RomavertreterInnen und Menschenrechtsorganisationen über die in Bulgarien verbreiteten Bilder. Wie in jeder anderen Gesellschaft gibt es auch unter RomNija Hierarchien und Abhängigkeiten, lernte ich. Wie in jeder anderen Gesellschaft gibt es auch Kriminalität. „Das Einzige, was sie aber wirklich allen gemeinsam haben, ist die Art der Segregation, die sie erleben müssen“, erklärte mir schließlich Margarita Ilieva vom Bulgarian Helsinki Committee, einer Menschenrechtsorganisation.
TV-Reportage als Quelle?
Als ich Norbert Ceipek von meinen Erfahrungen erzähle, lässt er sie nicht gelten: „Roma sind in Clans organisiert. Man darf dem Irrtum nicht aufsitzen, wenn man in ein Romaviertel kommt, dass die einem sagen, wie es läuft. Die sagen alle: ,Bei uns ist alles in Ordnung, die da drüben sind es, im Nachbarviertel.‘ Geht man ins Nachbarviertel, hört man, die da drüben sind es.“ Dem „profil“ erzählte Norbert Ceipek Anfang 2014, dass diese Clans die Kinder untereinander verleihen und die Eltern für drei Monate pro Kind 3.000 bis 4.000 Euro bekommen. Im „profil“-Interview entstand der Eindruck, dass diese Summe im Zusammenhang mit „Drehscheibenkindern” recherchiert wurde. Als ich nachfrage, erfahre ich schließlich, dass Ceipek diese Zahlen und Vermutungen von der Metropolitan Police in London und aus einer BBC-Reportage aus dem Jahr 2009 bezieht. Ich finde die Reportage mit dem Titel „Im Auftrag der Sippe“ im Internet. Die Reportage wurde in vielen Ländern Europas ausgestrahlt.
In der Schweiz genau zu jenem Zeitpunkt, als in Genf ein Gesetz angedacht wurde, wonach Kinder den Eltern abgenommen werden sollten, wenn sie betteln. Die Romaabteilung im Europarat kritisierte die Reportage scharf. Sie hielt fest, dass Kinderhandel ein ernstes Problem darstellt, das es zu bekämpfen gilt, doch „darf nicht – wie in dieser Reportage – Kinderhandel als weit verbreitetes Phänomen unter Roma beschrieben werden“. Der Generalverdacht führt zu bedauerlichen Fällen wie jenem in Manchester, wo sechs Eltern eingesperrt wurden, weil sie im Verdacht standen, Kinderhandel zu betreiben. Ihre 15 Kinder kamen in temporäre Betreuung. Der Verdacht bestätigte sich nicht, die Eltern wurden wieder freigelassen. Leidtragende sind die Familien, die unschuldig inhaftiert und in den Medien als Kriminelle dargestellt wurden. Nicht nur der Europarat, auch Roma-Organisationen kritisieren, dass die Fernsehreportage zwar vorgibt, ein wichtiges Thema zu behandeln, doch letztendlich „den wachsenden Antiziganismus in ganz Europa anheizt“. Unkommentiert zu Wort kommt übrigens ein Lega-Nord-Mitglied, das meint, dass man „sie einfach töten müsste“.
Kronen-Zeitung: falsche Verweise
Norbert Ceipek gilt nicht nur als internationaler Experte, er macht seit Jahren auch Schlagzeilen. Qualitätsmedien wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung zeichneten mit seinen Aussagen eine Welt von schwerreichen kriminellen „Roma-Clanchefs“ und deren in Elend und Unterdrückung lebenden Untertanen, denen bewusst der Zugang zu Bildung verwehrt wird. „Bettler-Bosse leben in Villen“ titelte etwa auch die Kronen Zeitung just im letzten Salzburger Gemeinderatswahlkampf, in dem das Thema Betteln eine wichtige Rolle spielte. Die Krone brachte Fotos mit Quellenverweis auf das seriöse National Geographic, das 2012 eine Reportage über ein reiches rumänisches Dorf veröffentlichte. Im Bericht von National Geographic stammt der Reichtum von Kunstschmieden, die dort traditionell angesiedelt sind und gute Geschäfte machen. Fotos dieser Reportage hat die Krone übernommen und – frei erfunden – als „die Villen der Mafia-Hintermänner“ abgedruckt. Von Betteln oder Menschenhandel war im National Geographic allerdings überhaupt nicht die Rede. Diesen Zusammenhang stellte nur die Krone her, unterstützt von einem „Experten, wenn es um Bettel-Clans geht“ – Norbert Ceipek: „Ja, ich habe dieses Luxus-Dorf gesehen“ übertitelt die Krone das Ceipek-Interview, in dem der Leiter der Drehscheibe über den Reichtum der „Bettel-Mafia“, die in diesen „Luxus-Vierteln“ in Saus und Braus lebt. Der Artikel heizte die Stimmung im Wahlkampf zusätzlich an.
Die Bilder der Villen übrigens, die gern als Kernzellen der „Bettel- und Diebesmafia“ dargestellt werden, geistern schon seit Jahren durch den Boulevard. In Bulgarien macht „Zar Kiro“ gerne Schlagzeilen und stellt sich als „Romakönig“ dar. Frage ich befreundete bulgarische RomNija, ob Kiro ihr Anführer sei, höre ich: „Das hätte er wohl gern.“ Auch in Rumänien gibt es Typen wie „Zar Kiro“. „Da geht es aber um ein Spiel mit den Medien und nicht um Menschenhandel“, sagt Norbert Mappes-Niediek. Mappes-Niediek ist Journalist und Fachautor für Südosteuropa. 2012 veröffentlichte er das Buch „Arme Roma, böse Zigeuner“, für das er in Rumänien und Bulgarien recherchierte. In dem Buch stellt er Mythen über sogenannte „Zigeuner“ der Lebensrealität von RomNija gegenüber. „Dem selbst ernannten Zar“, so Mappes-Niediek „ist ja das Image der Volksgruppe vollkommen egal. Denn er will immer als groß und mächtig erscheinen, und schon hat man eine schöne Geschichte: ein Typ mit Goldzähnen, der mit seinem Marmor protzt.“
Ceipek: Falsch zitiert?
Zurück nach Wien. Nicht nur Roma-Organisationen, sondern auch der Berufsverband der SozialarbeiterInnen kritisierten bereits im Vorjahr die Aussagen von Ceipek scharf. Auch Birgit Hebein von den Grünen meldete sich zu Wort: „Ich finde es höchst gefährlich, dass in der medialen Auseinandersetzung soziale Probleme ethnisiert werden und aus Kinderarmut ein ,Roma-Problem‘ mit kriminellem Charakter konstruiert wird. Die massiv steigende Armut wird damit außer Acht gelassen.” Norbert Ceipek bekam von der MA 11 schließlich die Aufforderung, sich medial nicht mehr zu Wort zu melden, was einen empörten Aufschrei durch die Medienlandschaft zur Folge hatte. Eine Diskussion über freie Meinungsäußerung brach los, obwohl eigentlich eine Diskussion über Sachlichkeit vonnöten gewesen wäre.
Doch warum erzählt Ceipek Medien, dass „Kinder, die nicht zur Schule gehen und stattdessen Geld verdienen, bei den Roma höchsten Respekt genießen“, wie Ceipek sagt? Diese Aussage sei aus dem Zusammenhang gerissen, so Ceipeks Antwort. Ob er also falsch zitiert wurde? „Ja, weil es modern ist, so zu berichten.“
Was war da also zuerst: die Medien, die nach derartigen Schlagzeilen gieren, oder einer, der gern Schlagzeilen liefert?
Die Kinder und Jugendlichen, die bettelnd und stehlend ihre Jugend verbringen, bringt die mediale Aufregung wohl nicht weiter. Dringend nötig wäre eine sachlich und differenziert geführte Diskussion auf Basis eindeutiger Fakten. Offizielle Zahlen, wie viele der Drehscheibenkinder tatsächlich von Menschenhandel im Zusammenhang mit Betteln und Stehlen betroffen waren, gibt es bis dato nicht.
Ulli Gladik ist Filmemacherin und hat eineinhalb Jahre in Bulgarien gelebt. In ihrem Dokumentarfilm „Natasha“ (2008) begleitet sie eine bulgarische Romni, die in Graz und Wien bettelt. Bei den monatlich stattfindenden Rechtshilfetreffen der BettelLobbyWien betreut sie aufgrund ihrer Sprachkenntnisse die bulgarischen BettlerInnen. Ihr jüngster Dokumentarfilm „Global Shopping Village“ lief vor dem regulären Kinostart beim Linzer Filmfestival Crossing Europe.
Unterstützen Sie jetzt unabhängigen Menschenrechtsjournalismus mit einem MO-Magazin-Solidaritäts-Abo