Die Säulen der Macht
RUBRIKEN. Österreichs Protestbewegungen fehlt es eher an strategischem Denken denn an lustigen Ideen.
SONDERECKE: um die Ecke gedacht mit Philipp Sonderegger
Die Riahi-Brüder präsentierten kürzlich ihren Film „Everyday Rebellion“ im Kino. Vom Arabischen Frühling bis Occupy Wall Street spannt die Dokumentation einen Bogen über gewaltlose Protestformen und lustvollen Widerstand. Bei der Premierendiskussion im Gartenbau-Kino waren Scheinwerfer und Fragen vor allem auf Inna Schewtschenko, Frontfrau der ukrainischen Aktivistinnengruppe Femen, gerichtet. Ihre Arbeitsweise der körperlichen Entblößung dürfte dabei nicht unwesentlich sein. Doch auch ohne nackte Haut haben während der Vorführung einfallsreiche Protestideen viel Publikumsresonanz gefunden. Der dürre Serbe Srdja Popovic, der weltweit Bewegungen aufbaut und in lapidaren Worten die Unerlässlichkeit von Planung predigt, stand beim Publikumsgespräch brav daneben und durfte gerade einmal eine Frage beantworten.
Tage später hielt FM4-Moderator Martin Blumenau seine Begeisterung für Schewtschenko in einem Blogbeitrag fest. In einer Fernsehsendung hatte sie spontan die Idee entwickelt, die Fahnen vor dem österreichischen Parlament auszutauschen und eine eigene Flagge zu hissen. Genau daran mangle es der österreichischen Protestkultur, so Blumenau: an einer kreativen, aufmerksamkeitserregenden Idee mit Mut zum Risiko.
Ich meine, genau daran mangelt es der österreichischen Protestkultur nicht. Zunächst einmal ist die Beobachtung faktisch falsch. Nicht selten wurden hierzulande Ansätze praktiziert, die erst Jahre später international reüssierten: „Titten gegen Rassismus“ hieß eine Fotoserie gegen Schwarz-Blau. Und netzwerkförmiger Protest wurde bereits 2009 von den Audimaxist/innen konzeptualisiert, als von den spanischen Indignados oder Occupy noch lange keine Rede war. Und von Risikobereitschaft können jene Tierschützer/innen ein Lied singen, die nach mehrjährigen Prozessen rehabilitiert, aber finanziell ruiniert dastehen.
Was hierzulande fehlt, sind die kühlen Denker/innen, die nicht auf den schnellen Effekt aus sind, sondern kreativen Aktivismus mit einer tragfähigen Strategie verbinden. Einige NGOs – vor allem im Umweltbereich – verfügen über solche Kompetenzen, Ziele und Taktiken. Doch gerade unseren politischen Bewegungen mangelt es meist an einer konkreten Vorstellung, welche Verhältnisse durch welche Maßnahmen konkret verändert werden sollen. Ein Defizit, das mit noch mehr Aktionismus wett gemacht wird.
Popovic’ Rezept ist nicht besonders aufregend: Er meint, um das Regime zu stürzen, müssen Protestbewegungen gesellschaftliche Säulen der Macht wie die Polizei, die Mittelschicht oder Medien für sich gewinnen. Ob konkrete Gesetzesänderungen durchgesetzt, eine Ministerin gestürzt oder sozialer Wandel bewirkt werden soll – vom Prinzip her lässt sich dieses Schema auf alle politischen Ziele anwenden. Doch das erfordert genaue Kenntnisse der Lage, einen guten Plan und Ausdauer.
Philipp Sonderegger ist Menschenrechtler, lebt in Wien und bloggt auf phsblog.at.
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