Hinter der Idylle
SPOTLIGHT. 60 ErntehelferInnen verlangten vergeblich die Auszahlung ihrer Überstunden bei einem Großbauern in Thaur, Tirol. Also klagten sie diesen Anfang Oktober in einem mutigen Schritt. Die 33-jährige Andrada aus Rumänien ist eine von ihnen. Porträt: Sónia Melo
Andrada (Name von der Redaktion geändert) hat braune Augen und blond gefärbte Haare. Eigentlich sollte die Haarfarbe anders ausfallen, und zwar so, wie auf der Verpackung angegeben. Das gelingt nicht immer. Andrada ärgert sich darüber nicht, denn „nicht immer alles wie planen passieren“, sagt sie. Verben konjugiert sie im Deutschen nicht, sie drückt alles im Infinitiv aus. Das hat sie so gelernt. Zehn Jahre lang sprach man so zu ihr in Tirol, die Chefs, die KollegInnen aus anderen Ländern, die Kassierin im Supermarkt. Und so lernte die Rumänin Deutsch.
Ein Jahrzehnt arbeitete Andrada am Schotthof, dem Bauernhof von Josef Norz. Mit einer Anbaufläche von über 100 Hektar und 160 MitarbeiterInnen ist der Schotthof einer der größten Landwirte seiner Region.
Überstunden bekam die Erntehelferin zum allerersten Mal im September 2013 bezahlt. Dafür musste sie protestieren, und schließlich hat sie dann auch gekündigt.
Dabei glaubt Andrada, in diesem September „wenig Stunden“ gearbeitet zu haben. Es waren insgesamt 360 Stunden, die sie Salatköpfe geerntet hat, der Monatslohn betrug 1.000 Euro. „Normal über 400 Stunden im Monat“, sagt sie. Mehr als 1.200 Euro verdiente die Frau jedoch nie. Das sind drei Euro in der Stunde. Der Kollektivvertrag in Österreich schreibt einen Nettolohn für ErntehelferInnen von 5,70 pro Stunde vor, auch wenn per Stück bezahlt wird.
Von den monatlich 1.000 Euro musste Andrada noch einiges abziehen. Im Personalhaus im Schotthof teilte sie ein 16-Quadratmeter-Zimmer mit Ehemann, Mutter und Cousine. Für die Miete zahlte jede der vier Personen dem Landwirt 110 Euro. Sogar die Gummiringe, mit denen sie Radieschen zusammengebunden hat, musste sie der Handelskette abkaufen.
Arbeiterkammer springt ein
Geboren wurde Andrada in Sibiu, hierzulande als Hermannstadt bekannt. Sie brach die Schule sehr früh ab, um arbeiten zu gehen, und war noch ledig, als sie ihrer Mutter nach Österreich folgte, so wie diese als Erntehelferin. Im Schotthof lernte Andrada ihren Mann kennen, auch er ist in Sibiu geboren. In dieser Begegnung sieht die 33-jährige Frau einen guten Grund, nicht alles zu bereuen, wenn sie an Österreich denkt.
Sie starrt vor sich hin, als sie vom Schotthof erzählt. Wie Ware sei sie dort behandelt worden. In Transportwagen, die in Wirklichkeit „für Gemüse und nicht für Menschen“ gedacht sind, wurden sie und die anderen ErntehelferInnen tagtäglich auf die Felder gebracht. Im Hochsommer war allen schwindelig, nahezu täglich fiel jemand aus – wegen Schwäche, Hitze oder Müdigkeit. Unzufrieden war Andrada schon lange im Schotthof, doch sie nahm die Umstände in Kauf, denn zu Hause in Rumänien ist es schwer, Arbeit zu finden.
Anfang Oktober dieses Jahres beschloss sie, gemeinsam mit zwei anderen KollegInnen, nicht mehr tatenlos hinzunehmen, dass Überstunden im Schotthof nicht bezahlt wurden. Viele Unzufriedene schlossen sich ihnen an.
Über 60 ArbeiterInnen kündigten und kämpfen nun um ihre vertraglichen Ansprüche. Von der Landarbeiterkammer fühlen sie sich jedoch nicht vertreten, denn laut dieser müsse ihnen Norz bloß die Überstunden für 2013 rückwirkend begleichen. Deshalb baten sie die Arbeiterkammer Tirol um Unterstützung. Und obwohl diese für die ErntehelferInnen nicht gesetzlich zuständig ist, stellt sie mit einem Anwalt rechtlichen Beistand zur Seite. 43 von den Betroffenen klagten den Großbauer. Sie fordern mit der AK die Auszahlung der Überstunden, rückwirkend für die letzten drei Jahre.
Andrada lebt mittlerweile nicht mehr in Österreich, sie ist nach Hause gefahren, zurück nach Rumänien. Sie folgte dem Rat einer Freundin und fängt bald einen Friseurkurs an. Sie würde gern auch wieder nach Österreich, vorläufig aber braucht sie Ruhe. Seit Jahren hat das Paar einen Kinderwunsch, doch es klappt nicht. Stressbedingt, sagen die Ärzte. Andrada hofft, dass ihr Wunsch nun doch noch in Erfüllung geht.
Nach Redaktionsschluss des MO-Magazin für Menschenrechte berichtete die Tiroler Tageszeitung, dass es nun doch zu einer Einigung zwischen ErntehelferInnen und dem Gemüsebauern gekommen sei.
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