Sei achtsam
RUBRIKEN. Der Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Deshalb brauchen wir eine Care-Ethik.
POPULÄR GESEHEN: Eine Kolumne von Martin Schenk
Die Türen schließen. Der Zug fährt ab. Eine Stimme aus dem Off ertönt. „Seien Sie achtsam: Andere Fahrgäste benötigen Ihren Sitzplatz vielleicht notwendiger.“ So heißt es neuerdings in der Wiener U-Bahn. Kleine Revolution an der Durchsagefront. Nicht die Pflicht ruft, sondern die wachen Sinne sollen in den Verkehrsbetrieben den Schwächeren zum freien Platz verhelfen. Die neue Durchsage arbeitet mit einem sorgeethischen Bezugsrahmen. Die CareEthik weist auf menschliche Haltungen hin, die für gute Beziehungen untereinander nötig sind. Dazu zählt die Haltung der Achtsamkeit: das aufmerksame Durch-die-Welt-Gehen ist eine Voraussetzung dafür, anderen Menschen gerecht zu werden. Wer den Platz „notwendiger braucht“, soll durch Beobachtung klar werden, nicht durch Pflichterfüllung. Der Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Einen lückenlosen Pflichtenkatalog oder gar Tugendzwang kann der Staat nur um den Preis von Totalitarismus und der Aufgabe von Freiheit erzwingen. Ähnlich lebt auch der Sozialstaat von Voraussetzungen, die er selber nicht schaffen kann. Dass es Mindestsicherung als Schutz vor Verelendung gibt, hängt auch von der Solidarität ab, die einer Gesellschaft innewohnt. Armutsdefinitionen bringen ja meist weniger zum Ausdruck, was ein Mensch braucht, als vielmehr, was die Gesellschaft ihm zuzugestehen bereit ist. Der Zug hält in der Station. Die Türen gehen auf. Eine Stimme aus dem Off ertönt: „Bitte seien Sie achtsam. Zwischen Bahnsteig und U-Bahn-Tür ist ein Spalt.“ In diesem Spalt kann auch die Achtsamkeit verschwinden – und als liberaler Gesinnungskitsch wieder auftauchen. Ratgeberbüchlein, Managementseminare und Karriereseiten der Zeitungen sind voll davon: „Vier Wege zur Achtsamkeit“, „Achtsamkeit lernen in zwei Tagen“, „Die Welt spüren und besser führen“, „Die Flügel ausbreiten und Achtsamkeit leben“ usw. Viele bekommen aufgrund der Vermarktung des Achtsamkeitbegriffs bei seiner Nennung mittlerweile schon Hautausschlag. Ist ihnen nicht zu verdenken. Und einen weiteren Einwand gilt es noch zu beachten. Strukturen strukturieren auch Haltungen. Solidarische Bedingungen prägen und definieren Werthaltungen. Gesellschaften mit stärkerem sozialem Ausgleich weisen höhere Lebenserwartung, geringeren Statusstress, höheres Vertrauen, mehr Inklusion und mehr Gegenseitigkeit auf. Also mehr Achtsamkeit bei gleichzeitig höherer sozialer Ungleichheit funktioniert nicht. Da ist ein Spalt. Bitte, seien Sie achtsam.
Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich.
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