Das dritte Geschlecht
INTERSEXUALIITÄT. Bub oder Mädchen?, heißt es nach der Geburt. Im Fall von intersexuellen Menschen lässt sich das aber so nicht beantworten. Die Medizin nimmt an Kindern operativ Geschlechtszuordnungen vor und sieht sich dafür mit dem Vorwurf der Men
Text: Clara Akinyosoye
Eltern werden darauf vorbereitet, was passiert, wenn ihr Kind Trisomie hat, aber nicht darauf, dass ihr Kind völlig gesund ist, jedoch nicht in das Frau-Mann-Schema passt“, kritisiert Gabriele Rothuber, die erste Intersex-Beauftragte Österreichs. Das liegt wohl daran, dass Intersexualität nicht nur ein Tabuthema ist, sondern auch nur eine recht kleine Minderheit betrifft. Eine Kombination, die dazu führt, dass das Thema selten offen angesprochen wird. Der Deutsche Ethikrat hat im vergangenen Jahr versucht, Empfehlungen im Umgang mit intersexuellen Menschen auszusprechen. In Österreich hat sich die Bioethik-Kommission, die für ethische Fragen in der Medizin zuständig ist, des Themas bislang nicht angenommen. Dort heißt es knapp: „Es war noch kein Thema und wird in nächster Zeit auch kein Thema sein. Denn auch auf internationaler Ebene wird Intersexualität nicht dringlich behandelt.“ Ein Paradebeispiel für die Behandlung des Themas in Österreich.
Intersexuelle Menschen stehen zwischen den Geschlechtern. Sie sind genetisch, hormonell oder anatomisch nicht eindeutig dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zuzuordnen. Schätzungen zufolge werden in Österreich jährlich etwa 20 bis 25 solche Kinder geboren. Die Dunkelziffer soll höher liegen. Auch deshalb, weil einige Betroffene erst später merken, was mit ihnen los ist. Manche erfahren überhaupt nie von ihrer Intersexualität, weil ihre Genitalien unauffällig herausgebildet sind. Mitunter bemühen sich Eltern auch, die physische Besonderheit ihrer Kinder zu verbergen. Die Medizin versucht zu helfen, indem sie „Entscheidungshilfe“ leistet: Ärzte, die von überforderten Eltern aufgesucht werden, schlagen Genitaloperationen und Hormonbehandlungen vor. Mit diesen „Heilbehandlungen“ sollen spätere Krankheit und Identitätsprobleme abgewendet werden. Zum Leidwesen vieler Betroffener. Sie führen ins Feld, dass es gerade die Genital-OPs seien, die spätestens im Erwachsenenalter zu psychischen Problemen führen. Tatsächlich kann nie mit Sicherheit bestimmt werden, ob Betroffene sich in dem ihnen zugeteilten Geschlecht später wohl fühlen werden. Der deutsche Verein „Intersexuelle Menschen e. V.“ sieht in dieser medizinischen Praxis deshalb einen „erheblichen Verstoß gegen die Menschenrechte auf körperliche Unversehrtheit, Selbstbestimmung und Würde“.
Zum Mädchen operiert
Das sieht auch Alex Jürgen so. Als Jürgen 1976 zur Welt kommt, merken die MedizinerInnen, dass das Kind nicht eindeutig einem Geschlecht zuordenbar ist. Sein Penis ist ungewöhnlich klein, seine Hoden befinden sich im Bauchraum. Den Eltern sagen die Ärzte, dass Jürgen nie ein erfülltes Sexleben haben wird, dass ihm Brüste mit Haaren wachsen werden und er ein hohes Risiko hat, an Hodenkrebs zu erkranken. Der folgenschwere Rat: Sie sollen Jürgen als Mädchen aufziehen. Ab dem zweiten Lebensjahr wird Jürgen Alexandra genannt. „Mit sechs haben sie mir den Penis amputiert, und mit zehn waren die Hoden weg“, erzählt Alex Jürgen. Lange wird Alexandra ihre Intersexualität verschweigen, wird mehrfach operiert, bekommt weibliche Hormone. Mit 16 wird eine künstliche Vagina eingepflanzt. Eine Nebenwirkung der Operation: Alexandra wird inkontinent. Der Teenager leidet, wird drogenabhängig, bekommt Depressionen und unternimmt einen Selbstmordversuch. Als wäre das nicht schon genug, erkrankt Alex später an Leukämie, fällt ins Koma – aber überlebt. Mit 26 entscheidet Alexandra sich dazu, nicht mehr als Frau leben zu wollen und lässt sich die Brüste amputieren. Alexandra heißt ab jetzt Alex Jürgen und setzt sich für die Rechte und Anliegen von zwischengeschlechtlichen Menschen ein.
Nach der Geburt: Bub oder Mädchen?
Ein besonders schwerer Fall, aber einer von mehreren. Doch es habe sich im Lauf der letzten Jahrzehnte in der medizinischen Praxis einiges zum Positiven verändert, sagt Stefan Riedl, Endokrinologe an der Ambulanz für Sexualentwicklungsstörungen am Wiener AKH. Es haben sich spezielle medizinische Zentren in Wien, Linz oder Innsbruck herausgebildet, die als Anlaufstelle für Intersex-Betroffene dienen. Dort analysiert und berät ein interdisziplinäres ÄrztInnenteam jeden Fall für sich. Wo früher sofort ein Geschlecht zugeordnet und operiert wurde, wird jetzt viel öfter zugewartet. Die Kinder sollen mitentscheiden können, sagt Riedl. Zumindest für das zuständige Zentrum am AKH könne Riedl das versichern. Er gilt als Mediziner der „neue Schule“, der nicht sofort Operationen in die Wege leitet. Dort wartet man nun „möglichst“, bis das Kind 14 Jahre alt ist und sich selbst einbringen könne, sagt Riedl. Vielfach seien es aber die Eltern selbst, die eine rasche Zuordnung und Operation wünschen, so die Erfahrung des Mediziners. „Die erste Frage, die Eltern gestellt wird, ist ja: Ist es ein Bub oder ein Mädchen? Und sie wollen eine Antwort darauf.“
Neue Ansätze
Verhindern lassen sich Genitaloperationen an Kindern aber nach wie vor nicht. Denn wer sein Kind operieren lassen will, „findet jemanden, der es operiert“, weiß Riedl. Er gibt zu bedenken, dass es bezüglich der Operationen an Intersexuellen eine Dunkelziffer gäbe. Denn obwohl alle Betroffenen an ein medizinisches Zentrum verwiesen werden sollten, geschieht das nicht immer. Wenn Eltern Auffälligkeiten bemerken und zu UrologInnen gehen, würden ÄrztInnen die Kinder mitunter einfach operieren. Deswegen arbeitet Riedl an der Vereinheitlichung der Behandlungsstandards.
Doch auch in Wien werden Genitaloperationen an Kindern durchgeführt. So rät man am AKH Eltern zu einer Operation im Kindesalter, wenn bei deren Kindern das Andrenogenitale Syndrom (AGS), eine Hormonstörung der Nebennieren, auftritt. AGS führt bei Menschen mit einem XX-Chromosomenpaar zu einer Vermännlichung der Genitalien. Das sei aber aus mehreren Gründen ein Sonderfall, findet Riedl: erstens weil Betroffene Gebärmutter und Eierstöcke haben und „daher später als Frauen normal Kinder kriegen könnten“ und sich in den meisten Fällen später als Frauen fühlten. Zweitens weil der deutsche Ethikrat Betroffene von AGS nicht als Intersexuelle im engeren Sinn klassifiziert und viele Betroffene selbst das auch nicht täten. Drittens weil „eine frühe Operation oft technisch einfacher ist“. So verschiedenartig die Geschlechtsvariationen Betroffener also sind, so verschieden scheinen letztlich auch die medizinischen und ethischen Perspektiven zu sein. Unumstößlicher Fakt ist allerdings: Es gibt kein Verbot für Genitaloperationen an Kindern. Ein Zustand, den Betroffenenorganisationen kritisieren. Sie wollen nicht, dass Intersexuelle mit Zwang und unwiderruflich in ein Geschlecht gedrängt werden.
State of the Art
ÄrztInnen dürfen grundsätzlich „geschlechtszuweisende Operationen und weiterführende Hormonbehandlungen durchführen, wenn diese das Kriterium einer Heilbehandlung erfüllen“, erklärt die Juristin Eva Matt, langjährige wissenschaftliche Mitarbeiterin am Verwaltungsgerichtshof. Doch was eine Heilbehandlung ist, wird davon abgeleitet, was in der Medizin „State of the Art“ ist. „Das juristische Problem ist, dass die Medizin ihre eigenen Maßstäbe setzt. Sie definiert, was ihr „Behandlungsstandard ist und somit auch rechtlich den Sorgfaltsmaßstab“, sagt Matt. Für die Betroffenen hat das weitreichende Folgen. Denn durch die Operationen verlieren die Menschen mitunter ihre Reproduktionsfähigkeit – etwa wenn Hoden oder Gebärmutter entfernt werden. Ansprüche auf Entschädigung können die Menschen nicht stellen. „Solange die Medizin nicht sagt, dass die OPs nicht mehr Behandlungsstandard sind, sind die Behandlungen legal“, so Matt. Hier bewegen sich ÄrztInnen in einer Art rechtlicher Grauzone. Diesen Zustand, der MedizinerInnen der alten Schule zum Vorteil gereicht, kritisieren die Vertretungen der Betroffenen. Denn rein kosmetische Operationen wie Klitorisverkleinerungen und Kastrationen von Kindern würden weiterhin als notwendige Heilbehandlungen verkauft, monieren etwa Intersex-AktivistInnen der NGO Zwischengeschlecht.org. Tatsächlich können Hoden im Bauchraum in manchen Fällen ein erhöhtes Krebsrisiko bedeuten. Wie im Fall von Alex Jürgen wird dieser Zustand als Argumentation für eine vorsorgliche Entfernung der betroffenen Genitalien herangezogen. Aber selbst MedizinerInnen betonen, dass engmaschige Kontrollen zur Krebsvorbeugung in vielen dieser Fälle ausreichen würden. Denn was viele nicht wissen: Intersexualität ist nicht per se als Krankheit zu begreifen. Es gibt Betroffene, die ohne gesundheitliche Probleme aufwachsen. Allein die Gesellschaft scheint noch ein ungelöstes Problem damit zu haben, Platz zu machen – für ein drittes Geschlecht.
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