Meine Familie war geschockt
DOSSIER. Simone Schönett, Schriftstellerin und Angehörige der Jenischen, über die Konstruktion von Minderheiten und warum die ambivalente Frage der Herkunft letztlich doch wichtig ist.
Interview: Niko Katsivelaris
Sie haben zwei Romane verfasst, in denen Sie die Geschichte der Jenischen verarbeiten – „Im Moos“ und „re:mondo“ haben je eine junge jenische Frau als Protagonistin, die ihrer Familiengeschichte auf der Spur ist. Inwiefern ist Identitätsfindung in Familien einst verfolgter Minderheiten schwierig?
Beide Figuren, Jana und Sara, gehören der dritten Generation an. Ihre Familiengeschichten sind geprägt vom Zusammenbruch der Lebensweise ihrer Eltern und Großeltern als fahrende Händler. Auf eine bestimmte Weise die eigene Identität zu suchen, wie das die beiden jungen Frauen tun, ist eine Realität von Minderheiten allgemein – wie etwa auch bei den Roma und Sinti. Bei den Jenischen ist das aber noch schwieriger, weil die Versuche, sich an die sesshafte Mehrheitsbevölkerung zu assimilieren, hier noch länger zurück liegen.
Warum?
Im Nationalsozialismus war die Aufgabe der traditionell nomadischen Lebensweise eine Notwendigkeit, um zu überleben. Es gab für Jenische nur zwei Optionen: sesshaft zu werden und jegliche Spuren des fahrenden Lebens zu tilgen oder als „Asoziale“ politisch verfolgt zu werden. Das bedeutete: Konzentrationslager, Zwangssterilisierungen, Kindeswegnahmen – das thematisiere ich in meinen Romanen auch am Rande. Das hat sich natürlich auf die Familienstrukturen ausgewirkt. Wollte man weiterhin Jenisch sein, dann musste man es geheim halten. Das Leugnen der eigenen Identität wurde zu einer Überlebensstrategie.
Ihre Romanfigur Jana geht einen anderen Weg. Entscheidend dafür ist, dass sie im Radio ein Gedicht des jenischen Lyrikers Romed Mungenast hört. Welche Rolle spielte Mungenast für die Jenischen?
Mungenast war extrem wichtig für die Kultur der Jenischen. Vor allem, weil er die Sprache in seinen Gedichten verschriftlicht und damit konserviert hat. Für die ältere Generation, die die Verfolgung durch die Nazis erlebt hat, war das natürlich ein Schock. In ihren Augen geht man als Jenischer nicht an die Öffentlichkeit, man gibt seine Identität nicht preis. Die Überlegung dahinter war stets: Wer weiß, welche Zeiten kommen? Mungenast war großen Widerständen ausgesetzt. Aber das ist ja bei Leuten, die was voranbringen, immer so.
Wie war das bei Ihnen, als Sie sich für Ihre Familiengeschichte zu interessieren begannen? In „re:mondo“ ist die Rede von „unsichtbaren Brandnarben jener, die dem Feuer entkommen waren.“
Vieles von dem, was ich in meinen Büchern verarbeite, ist mir schon sehr vertraut. Ich konnte dieses Verschweigen und Verbergen in meiner Jugend überhaupt nicht verstehen. Vor dem Hintergrund der Geschichte habe ich aber mittlerweile mehr Verständnis dafür. Innerhalb meiner Familie war es aber nicht so schwierig, darüber zu sprechen. Als dann aber mein erster Roman „Im Moos“ publiziert wurde, reagierte meine Familie doch geschockt. Die Jenischen wurden damit ja öffentlich zum Thema.
Die Herkunft der Jenischen ist ungeklärt. In Ihrem zweiten Roman „re-mondo“ setzen Sie einen Ursprungsmythos und ironisieren diesen. Ist Herkunft wichtig?
Ich beschäftige mich schon lange mit der Geschichte der Jenischen. Irgendwann ging mir die Frage nach der Herkunft furchtbar auf die Nerven: „Und woher kommen denn die Jenischen?“ Diese Frage scheint so zentral zu sein, wird aber immer nur Minderheiten gestellt. Die Mehrheits-ÖsterreicherInnen wissen ja auch nicht, woher sie kommen. Wozu auch? Sie werden auch nie danach gefragt.
Beschäftigt Sie die Frage der Herkunft persönlich?
Ja, aber das ist heute nicht mehr rekonstruierbar. Deswegen gibt es auch so viele Theorien darüber. Auch unter den Jenischen selbst kursieren Mythen, dabei ist jeder überzeugt, sein Mythos wäre der richtige. Also habe ich mir gedacht: Warum soll ich nicht einen neuen Herkunftsmythos hinzufügen? Und der muss dann selbstverständlich bis in biblische Zeiten zurückreichen. Sie engagieren sich für die Anerkennung der Jenischen als Minderheit.
Warum gibt es bis heute keine Anerkennung?
Die Geschichte der Verfolgung geht bis in die Zeit Maria Theresias zurück. Kindesabnahmen gab es sogar bis in die 1970er Jahre mit dem Argument, nicht sesshafte Eltern wären „asozial“. Das ist wenig überraschend: Nach 1945 waren in den Krankenhäusern, Schulen und Heimen großteils die gleichen Verantwortlichen am Werk wie davor. Mir geht es aber vor allem um Sichtbarkeit und nicht um die Musealisierung einer Minderheit, so etwa als UNESCO-Weltkulturerbe. Sonst könnte man uns gleich ausstopfen und ausstellen, wie man es mit den Aborigines gemacht hat.
Gibt es ein positives Beispiel für Anerkennung?
Die Schweiz als einziges europäisches Land, wo die Jenischen als Minderheit anerkannt sind. Das gibt den Leuten etwa die Möglichkeit, wie früher vom fahrenden Gewerbe zu leben. Das tut ein Teil auch. Mit der Anerkennung wurde auch Infrastruktur geschaffen, etwa eigene Wagenplätze.
Wie ist das in Österreich?
In Österreich gibt es junge Jenische, die versuchen, die Tradition des fahrenden Gewerbes wiederzubeleben. Das scheitert dann aber oft an den höchst restriktiven Gewerbevorschriften – man muss sich mit den Gesetzen gut auskennen, um nicht plötzlich illegal zu sein.
NICHT REHABILITIERT
Die Jenischen – im Dritten Reich als „Asoziale“ verfolgt, ist die Geschichte dieser Minderheit bis heute kaum aufgearbeitet.
In den Diskussionen zum Thema Rassismus und Antiziganismus kommen die Jenischen kaum vor. Doch ähnlich wie Roma und Sinti wurden auch sie als Volksgruppe lange politisch verfolgt. Im Nationalsozialismus wurden sie zu „Asozialen“ erklärt und teils in Konzentrationslager deportiert. Die Gesamtzahl der Jenischen wird auf mehrere Hunderttausend geschätzt, allein in der Schweiz – dem einzigen Land Europas, in dem sie als Minderheit anerkannt sind – leben rund 35.000 Menschen. Viele von ihnen waren in einem fahrenden Gewerbe tätig, diese kleine Abweichung von der Norm brachte ihnen wahrscheinlich den Außenseiter- und Minderheitenstatus. Sie waren im Antiquitäten- und Schrotthandel tätig, im Korbergewerbe, der Reparatur von Herdplatten und Pfannen, der Messer- und Scherenschleiferei. Derart „nomadisch“ ausgerichtet, entwickelten sie eine eigene Kultur und als Reaktion auf die Diskriminierung eine eigene Variante des Deutschen – das „Jenische“. Während der NS-Zeit ließen sich die meisten Jenischen nieder, um der Verfolgung zu entgehen. Sie lernten, ihre Identität zu verbergen. Es ist dokumentiert, dass Jenische zwangssterilisiert und in KZs ermordet wurden, dass Eltern die Kinder weggenommen und in Heime gesteckt wurden. In der Schweiz mussten die Kinder nicht selten als „Verdingkinder“ arbeiten, das Hilfswerk Pro Juventute, das von 1926 bis 1972 in der Schweiz aktiv war, spielte dabei eine entscheidende Rolle. Auch den Versuch, die Kultur der Jenischen auf diese Weise zu beseitigen, teilen sie mit den Roma und Sinti. Aufgearbeitet wurde diese Geschichte in der Schweiz, wo die Jenischen heute eine anerkannte Minderheit sind. In Österreich steht das bislang aus.
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