Der lange Weg
DOSSIER. Seit 20 Jahren sind Roma in Österreich als Minderheit anerkannt. Seither hat sich einiges zum Besseren entwickelt. In Osteuropa hatte die Wende eher den gegenteiligen Effekt.
Text und Fotos: Gunnar Landsgesell
Über die Medien muss Mario sich schon wundern. Jedes Jahr, wenn sich der Anschlag auf die Roma-Siedlung in Oberwart jährt, melden sich die Journalisten. Dann kommen die seltsamsten Fragen auf. „Ob die Leute dort überhaupt Deutsch sprechen“, wollte einer wissen. Oder ob sie in „Lehmhütten“ leben. Oder es ruft eine Zeitung an und will sich ein Statement über Roma in irgendeinem anderen Land abholen, so als wäre man dafür zuständig. Mario Baranyai hat schon einiges erlebt, obwohl er mit 25 Jahren noch recht jung ist. Er arbeitet im „Verein Roma Oberwart“ als Berater, etwa wenn es darum geht, für Jugendliche die richtige Lehrstelle zu finden. Ziemlich souverän wirkt er, wenn er so erzählt. Und man bekommt den Eindruck, dass der Verein so etwas wie ein Schutzschild für die Roma in Oberwart ist.
Als im Jahr 1995 vier Menschen ermordet wurden, strömten die Reporter in die Siedlung und hielten die Kameras durch die Schlafzimmerfenster. Seither ist Skepsis angesagt. Seit 20 Jahren sind Roma als Minderheit in Österreich anerkannt. Als letzter Volksgruppe wurde nun auch ihnen jener Status zugesprochen, der Minderheiten schützen soll. „Das bringt Selbstbewusstsein, auch öffentlich zu sagen, dass wir Roma sind“, sagt Mario. Wie wenig man sich um die Rechte dieser Menschen gekümmert hat, zeigt allein die Geschichte der „Siedlung“, eigentlich ein Gemeindebau in Oberwart. Es ist mittlerweile die dritte, jede wurde in deutlicher Distanz zum Ort angelegt (siehe Foto).
Als während des Nationalsozialismus Oberwart „zigeunerfrei“ gemacht und danach doch eine Handvoll KZ-Überlebender zurückgekehrt war, schien das den politisch Verantwortlichen peinlich zu sein. Das schreibt Stefan Horvath in seinem neuen Buch „Atsinganos“. Der Besitz, die Häuser wurden den Leuten nicht zurückerstattet. Viele Jahre vergingen, bis die Gerichte symbolische Entschädigungen zusagten.
In diesen Jahren und danach lebte man in den von der Gemeinde errichteten Siedlungen. Zuerst ohne Wasser und Strom, ab Anfang der 1970er Jahre mit. Zu diesem Zeitpunkt war das Krankenhaus in Oberwart zu klein geworden, man brauchte ein neues. Man erbaute es genau dort, wo die Roma wohnten. Wieder zwang man sie zur Übersiedelung. Die Müllhalde der Gemeinde, schreibt Horvath, übersiedelte jedes Mal mit. Früher landete darauf alles: Alteisen, Motoröl und selbst abgetrennte Gliedmaßen aus dem Krankenhaus. Die Kinder spielten dort, und niemand beschwerte sich über den Gestank. Das war damals.
Heute, insbesondere seit dem Anschlag, ist einiges anders. Die Wohngemeinschaft von damals, als jedes Kind bei jeder Familie ganz selbstverständlich mit Essen versorgt wurde, gibt es heute so nicht mehr. Die Jungen arbeiten anderswo, ziehen aus der Siedlung weg, die Alten bleiben. Vielleicht 60 Leute leben noch dort. Irgendwann in der Zukunft wird es die Siedlung in Oberwart nicht mehr geben. Das hat auch mit dem Bildungsstand zu tun. 95 Prozent der heute über 45-Jährigen hat man in Sonderschulen gesteckt. Viele blieben Analphabeten und kamen am Arbeitsmarkt als HilfsarbeiterInnen unter. Oder am Bau, so wie Buchautor Stefan Horvath.
Obwohl er damals gar nicht schlecht verdiente, wie er schreibt, hätte er doch einen anderen Beruf ergreifen können. Schließlich war der im Jahr 1949 Geborene einer der ganz wenigen, die nicht in die Sonderschule kamen. Trotz seines Vorzugszeugnisses gab es auf der Hauptschule plötzlich keinen Platz mehr. Erst als Horvaths Volksschullehrer beim Hauptschuldirektor Druck machte, ließ man erstmals doch ein „Zigeunerkind“ an die Schule.
Mario Baranyai kennt solche Umstände nur noch aus Erzählungen. Zwar wurde er mit zwölf Jahren von drei Schulkollegen abgefangen, verprügelt und beschimpft, ohne dass die Schulleitung reagierte. Doch heute sei bereits eine andere LehrerInnengeneration am Werk, sagt Mario, und die Kooperation mit den Schulen funktioniere sehr gut. Sicherlich, manchmal kommt es noch vor, dass ein Betrieb oder ein Wohnungsvermieter aufgrund des Familiennamens eine Lehre oder eine Wohnung verweigert, es werde aber besser. „Diskriminierung“, sagt Mario, „wird über Generationen weitergegeben, es herrscht ein großes Unwissen.“
Roma-Panik in Europa
In Österreich leben einige tausend Roma und Sinti, wie viele genau, ist nicht bekannt. Nur eine Minderheit davon ist autochthon, die meisten reisten aus anderen Teilen Europas ein, um hier zu arbeiten. Sie sind SerbInnen, RumänInnen oder SlowakInnen – und zugleich eben auch Roma. Was sie verbindet, ist vielleicht vor allem die Sorge, ausgegrenzt zu werden. Eine einheitliche Roma-Kultur, die gibt es gar nicht, erklären einem Angehörige. Und selbst die Sprache, das Romanes, sei stark von der jeweiligen Landessprache geprägt.
Ein Bild von den Roma gibt es aber doch. Es hat mit Musik oder Betteln zu tun. Das sind die Zusammenhänge, in denen Roma erwähnt werden. Aus einem sozialen Problem wird ein kulturelles Phänomen. Sozialreportagen aus Slums in Osteuropa verstärken den Eindruck, dass wieder ein unverstellter Blick auf das Volk der Roma geliefert wird. Für Roma-Vertreter in Europa ist die Problematisierung der Armut ein Dilemma, weil einerseits notwendig, andererseits nur zum Teil repräsentativ. Sie fordern immer öfter von Brüssel, Infrastrukturprogramme in Südosteuropa zielgerichteter zu gestalten.
Rudko Kawczynski, Präsident des European Roma and Travellers Forum in Straßburg, kritisiert, dass in Rumänien nur 0,2 Prozent der vorhandenen EU-Mittel beantragt würden, weil das Land „romafeindlich“ sei und kein Interesse an der Verbesserung ihrer Situation besteht. Anderswo würden schamlos Straßen, Schulen oder öffentliche Plätze aus Programmen finanziert, die für Armutsbetroffene zweckgewidmet sind. Da Roma-Angehörige in den Jahren nach der Wende zu den Ersten gehörten, die aus Gründen geringer Bildung oder auch aus Rassismus gekündigt wurden, sei es kein Wunder, dass diese nun Arbeit in den reicheren Ländern suchen. „Roma sind keine Nomaden, die freiwillig von Land zu Land ziehen“, erklärte Kawczynski einer deutschen Straßenzeitung, „sie werden aus ihren Heimatländern regelrecht vertrieben.“
Zwar begannen Roma überall in Europa sich zu organisieren und – von einem Minderheitenstatut gestärkt – ein neues Selbstbewusstsein zu entwickeln, zugleich wurde die Stimmung der Mehrheitsbevölkerungen gegen Roma in den vergangenen Jahren nicht besser. Regelmäßig ist von Aktionen rechtsextremer Gruppierungen gegen die BewohnerInnen von Armensiedlungen zu hören, egal ob in Ungarn, Tschechien oder der Slowakei, wo erst kürzlich der rechtsradikale und erklärte „Roma-Hasser“ Marian Kotleba in der Region Banská Bystrica zum Regionalpräsidenten gewählt wurde. In Frankreich kam es, egal ob unter Sarkozy oder Hollande, zu Deportationen, in Deutschland werfen aufgebrachte BürgerInnen zugewanderten Roma die Ausplünderung der Sozialkassen vor. Kawczynski ortet eine Art „Roma-Panik“ in Europa.
Fast allen dieser Brennpunkte ist gemein, dass dort bescheidener Wohlstand auf blanke Armut trifft. In südosteuropäischen Staaten, in denen Krankenhäuser nur noch gegen Bezahlung operieren und die PatientInnen für teure Medikamente selbst aufkommen müssen, sind soziale Verwerfungen kein Wunder. Dennoch gibt es auch erfreuliche Ansätze: im strukturschwachen 10 Mario Baranyai, Mutter Susanne, vom „Verein Roma Oberwart“ zur Bildungsfrage: Die Generation 40plus, die als Kinder noch automatisch in Sonderschulen gesteckt wurde, hat heute ein Job-Problem. Norden Tschechiens etwa, wo in dem 2.500Einwohner-Ort Obrnice die Bürgermeisterin der konservativen ODS entschiedene Schritte setzte. Sie ging gegen Wohnungsspekulanten vor, kaufte für die Gemeinde mehrere Wohnungen zurück, ließ Kindergärten und Schulen und einen verlotterten Plattenbau, der nur „Haus des Schreckens“ genannt wurde, renovieren. Sie forcierte die CommunityArbeit, sorgte dafür, dass Roma in Projekte der öffentlichen Sicherheit eingebunden wurden, und schuf mit Festen und Aktionen die Möglichkeit für gegenseitige Begegnungen.
Das Geld dafür kommt aus dem Europäischen Sozialfonds. Es wird nicht allein dafür verwendet, Roma-Angehörige zu fördern, betont die Leiterin des Zentrums für soziale Dienstleistungen in Obrnice. Es gehe insgesamt um sozial Schwache. Sie hätten alle dieselben Probleme: Arbeitslosigkeit, Wucher, Verschuldung. Auch müsse den Eltern vermittelt werden, dass Bildung einen Wert für ihre Kinder darstellt und der Schulbesuch doch etwas bringt. Tatsächlich sind rund ein Drittel der Familien, die in die Sozialberatung kommen, keine Roma. Während in nordböhmischen Kleinstädten Neonazis immer wieder versuchen, die BewohnerInnen aufzustacheln, halten sie sich aus Obrnice fern. Für ihre umsichtige Politik erhielt die Gemeinde kürzlich einen Preis des Europarates.
Dass sich in Europa mit seinem unterschiedlich verteilten Wohlstand immer wieder Menschen aufmachen, um anderswo Arbeit zu suchen, scheint klar. Als vor einigen Monaten die deutsche TV-Talkerin Sandra Maischberger zu einer Diskussion über Armutseinwanderer mit Fokus auf Roma lud, verlagerte sich die Diskussion bald zur allgemeinen Situation in den jüngsten Beitrittsländern. Lucy Diakovska von der Girlgroup „No Angels“ erzählte, wie Mitte der 1990er Jahre der „schlimme Umbruch“ in Bulgarien begann.
Viele ihrer Bekannten seien nach Spanien gegangen, wo sie als Bauarbeiter anfingen. Freunde versuchten, illegal über die Grenze nach Deutschland zu kommen, wurden geschnappt und hatten einen Vermerk in den Pass bekommen, worauf sie jahrelang nicht mehr in das Nachbarland einreisen durften. „Bei mir hat es funktioniert“, sagt Diakovska, „weil mich die Schule wollte.“ Die Sängerin hatte einen musikalischen Ausbildungsplatz erhalten.
Diakovska ist keine Roma-Angehörige, das Preis-Lohn-Niveau in ihrem Herkunftsland kennt aber keine Hautfarben. Selbst wenn Arbeitgeber einen in Deutschland illegal um drei Euro Stundenlohn arbeiten lassen, sei das deutlich mehr als in Bulgarien, erzählt Diakovska. „Dort verdient man, wenn man Glück hat, 250 Euro – bei Preisen fast so hoch wie in Deutschland.“
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