Populär gesehen: Mein digitales Ebenbild
Die neue Macht will unsichtbar sein. Was Dorian Gray mit unserer Facebook-Kultur zu tun hat. Eine Kolumne von Martin Schenk. Illustration: Petja Dimitrova
Der reiche und schöne Dorian Gray besitzt ein Porträt, das statt seiner altert und in das sich die Spuren seines Lebenswandels gewaltvoll einschreiben. Während das Bildnis immer hässlicher wird, bleibt er selbst jung und makellos schön.
Facebook bietet den umgedrehten Dorian Gray: Man selbst wird älter, ist unperfekt und unbedeutend, während das digitale Bildnis makellos, besonders und perfekt bleibt. Wir erschaffen unser digitales Bildnis so wie wir uns wünschen: ein Dorian Gray, der sein anderes digitales Ich in die Welt der Träume führt. Der Tag besteht darin, dem digitalen Ebenbild nachzueifern, ihm gleichen zu wollen. Die Schönheitsoperationen im Gesicht folgen dem Blick aufs digitale Ebenbild. Jedes Posting wird eine Geschichte über sich selbst, jedes Like verrät eine Story über die eigenen Vorlieben, jeder Eintrag im Profil vervollständigt das Bildnis, das anleitet, wie wir die anderen sehen machen wollen, wie wir uns gerne sehen würden. Das Ziel: Maximale Anerkennung bei maximaler Privatheit. Man wäre gerne ein Anonymer, über den jeder spricht. Am liebsten wäre man ganz privat – aber allseits bekannt; für alle verborgen und für alle sichtbar zu gleich.
Beides zugleich wird sich aber in dieser Welt nicht ausgehen. Das Misstrauen in den alltäglichen Gesichtszwang ist vernehmbar. Auch steigt durch Gesichtserkennung und Kontrolle die Gruppe derer, die ihr Gesicht verbergen. Pussy Riot in Moskau, die Occupy-Bewegung mit ihren Masken, Banksy inkognito mit seiner Street Art, Peter Licht singt ohne Bild. Die Sehnsucht nach Anonymität wächst.
Auch bei den Mächtigen. Die neue Macht will unsichtbar sein: Als der Autoindustrielle Walter P. Chrysler im Jahr 1929 vom Time Magazine zum „Man of the Year“ gekürt wurde, wuchsen die entsprechenden Gebäude in lichte Höhen: das Chrysler Building zeigte sichtbar, wo die Macht saß: auf 319 Metern Höhe in Manhattan. Die neuen Gebäude der Macht ein Jahrhundert später entstehen in Kalifornien: Facebook baut eingeschossig, lässt Landschaften am Dach wachsen, fügt sich unsichtbar in die Natur. Der digitale Riese baut horizontale Zwergenlandschaften im Grünen. Diese neuen Gärten der Macht wollen verschwinden. Es gibt den Gesichtszwang für alle bei einer gleichzeitigen Ästhetik des Verschwindens der Mächtigen. Die Menschenmasse stellt sich mit Millionen digitalen Ebenbildern aus, während die digitale Macht sich unsichtbar macht.
Dorian Grays verfallendes Porträt lagerte verhüllt in seinem ehemaligen Kinderzimmer unter dem Dach. Das Gemälde unseres sich vervollkommnenden digitalen Ichs steht offen in den wohltemperierten Kellern der Facebook Gärten – und in den gekühlten Hinterzimmern der Geheimdienste. Gut behütet wird dort derweil mein digitales Bildnis immer besser, schöner, sportlicher und perfekter.
Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich