Damoklesschwert direkte Demokratie
Ist das Parlament nur noch die verlängerte Werkbank der Parteizentralen? Ein Streitgespräch über die Forderung nach mehr direkter Demokratie zwischen der SPÖ-Nationalratsabgeordneten Sonja Ablinger, Erwin Mayer von der „Initiative mehr Demokratie“ und Johannes Voggenhuber, Initiator des Volksbegehrens „Demokratie jetzt“.
Moderation: Corinna Milborn | Fotos: Magdalena Blaszczuk
Herr Voggenhuber, Sie haben das Demokratie-Volksbegehren hinter sich. Warum gab es vergleichsweise wenig Unterstützung für diese Initiative?
Johannes Voggenhuber: Dazu haben auch die Parteien beigetragen, sie haben in den vergangenen Monaten die direkte Demokratie durch diverse Alibi-Befragungen missbraucht. Das Bildungsvolksbegehren mit 380.000 Menschen hat man hingegen als Flop abgetan. Zwar wollte das Parlament aktiv werden, aber die Parteizentralen haben das gleich abgestellt. Das Ergebnis dieser Politik ist eine zermürbte und entmutigte Bürgerschaft. Die oben lachen, die unten merken es nicht.
Frau Ablinger, sind Sie eine jener, die jetzt lachen?
Sonja Ablinger: Nein, das war jetzt aber auch ironisch gemeint. Ich denke mehr daran, dass es im Bereich der parlamentarischen Demokratie selbst sehr viel Aufholbedarf gäbe. Es ist extrem ärgerlich, wie kurz etwa die Begutachtungszeiten sind. Oft bleibt nicht einmal Zeit, mit Experten zu sprechen. Beim Fremdenrecht ist es nicht unüblich, Begutachtungen über die Weihnachtsferien zu verschicken. Das zeigt: Im parlamentarischen Gesetzgebungsprozess gäbe es genug zu tun.
Wie stehen Sie zu mehr direkter Demokratie?
Ablinger: Ich bin eher skeptisch, ob so mehr Teilhabe garantiert werden kann. Wenn man sich die Beteiligung an verschiedenen Bürgerinitiativen anschaut, stellt sich heraus, dass sie von Leuten mit Geld und besserer Bildung dominiert werden. Studien ergeben, überspitzt formuliert, dass männliche Techniker in Pension diese Initiativen dominieren.
Herr Mayer, Sie setzen sich für direkte Demokratie ein. Sollen tatsächlich jene, die über Zeit, Geld und Informationen verfügen, bestimmen, welche Themen verhandelt werden?
Erwin Mayer: Das Problem ist, dass wir heute eine sehr verzerrte Demokratie haben, die keineswegs repräsentativ ist. Es gibt ja jetzt schon Interessengruppen, die einen privilegierten Zugang zur Gesetzgebung haben, teilweise institutionalisiert wie die Sozialpartner, teilweise Lobbyisten, die in der Begutachtungsphase aktiv werden. Darunter gibt es einige, die auch etwas an die Parteien spenden können.
Damit ist aber der gesamte Gesetzwerdungsprozess nicht repräsentativ. Und genau deshalb wollen wir eine direkte Demokratie – um den ausgehöhlten Parlamentarismus wieder zu stärken. Wir sehen in der Schweiz, dass auf diese Weise viel stärker auf die wahren Interessen der Bevölkerung Rücksicht genommen werden muss.
Wie wollen Sie sichern, dass alle Bevölkerungsschichten daran teilnehmen können?
Mayer: Über das Grundeinkommen, das Mindesteinkommen, auch über die verfügbare Information durch ein Abstimmungsbüchlein, das wie in der Schweiz an alle Haushalte geht. Wichtig ist, dass die Bevölkerung selbst ihre Interessen vertritt und das politische System reformiert, weil ich nicht glaube, dass die Politik in Sachen Parteienfinanzierung und Lobbyinggesetze gegen eigene Interessen etwas beschließen wird. Ablinger: Da würde mich schon interessieren, was Sie unter den Interessen der Bevölkerung verstehen? Da gibt es doch ganz unterschiedliche Interessenlagen. Und zweitens: Wer sagt, dass nicht auch direktdemokratische Mittel von Lobbygruppen missbraucht werden können? Da könnte jemand viel Geld für Werbemittel zur Verfügung stellen. Die Frage ist grundsätzlich, wie wir zu mehr Demokratie kommen. Dazu muss der Klubzwang diskutiert werden, aber auch das, was man als innerparteiliche Demokratie versteht. Die Fassade der Geschlossenheit, nachdem der Parteivorsitzende etwas gesagt hat, heißt ja nur, dass dieser eben schon für alle entschieden hat. Wer dann noch etwas sagt, riskiert, dass der Chef das Gesicht verliert.
Das heißt, Sie treten für Parteien ein, die für die verschiedenen Interessen der Bevölkerung stehen und die Raum bieten, diese zu verhandeln. Herr Voggenhuber, einer der Kritikpunkte an direkter Demokratie ist die Frage, wie man mit den Milliardären, mit den großen Lobbys umgeht, die viel Geld haben? Man weiß vom Waschmittel, dass Werbung funktioniert, warum sollte das in der politischen Diskussion weniger gut funktionieren?
Voggenhuber: Sie sehen ja bereits an SPÖ und ÖVP, durch welches unterirdische Bewässerungssystem sie sich seit sechs Jahrzehnten ihre Monopolstellung gesichert haben. Da gibt es die verschiedensten Geldquellen – von Steuern bis Lobbys und Industrie. Viele Probleme, über die wir reden, ließen sich nur über eine gut entwickelte demokratische Kultur lösen. Hätten wir unabhängige Medien und ein Parlament, das Gesetzgeber dieses Landes ist statt der Regierung, die die Gesetze gemeinsam mit Lobbys in einem verschleierten Interessensprozess besorgt, dann wäre das anders. Anders auch als in der vielgescholtenen EU, wo Lobbyisten auf einer Liste ausgewiesen werden müssen, sitzen in Österreich die Lobbyisten im Parlament. Dort haben Sie z. B. einen Schweinezüchter als Abgeordneten sitzen, der dann Vorsitzender im Tiertransportausschuss ist. Hinsichtlich dieser fehlenden Trennung gibt es in Österreich überhaupt kein Problembewusstsein.
Das haben Sie interessant ausgeführt, wie aber lautet die Antwort auf die Frage des möglichen Missbrauchs von Geldern in der direkten Demokratie?
Mayer: Also eines der stärksten Argumente für die direkte Demokratie ist, dass man das Volk nicht mit dem eigenen Geld bestechen kann. Sechs Millionen Wahlberechtigte einzukaufen, wie wollen Sie das denn tun? Die Telekom hat zwar zehn Millionen Euro investiert und dafür ein Gesetz bekommen, mit dem sie vielleicht 50 oder 60 Millionen Euro verdient hat. In der direkten Demokratie hätte die Telekom aber eine Kampagne fahren müssen, um die Österreicher zu überzeugen, dass die Ausschreibung eines neuen Senders auf eine bestimmte Weise zu erfolgen hat. Wie sollte ihr das gelingen?
Zum Beispiel mit einer Werbekampagne.
Mayer: Ja schon, aber wie das Beispiel Schweiz zeigt, gewinnen da nicht immer die Milliardäre. Dort gibt es die Economie Suisse, das ist die Industriellenvereinigung der Schweiz, die ist zwar bei vielen Volksabstimmungen ein Key Player, gewinnt aber bei Weitem nicht jede Kampagne. Bei zu massiver Präsenz wird der Bürger schon skeptisch über die Interessen dahinter. Aber noch etwas Grundsätzliches zur direkten Demokratie: Das heißt nicht, dass über jede Frage abgestimmt wird. In der Schweiz erfolgen 97 Prozent der Entscheidungen im Parlament. Das Referendum schwebt aber über jedem Gesetzesbeschluss wie ein Damoklesschwert.
Frau Ablinger, hätten Sie für Menschenrechte und gegen das neue Fremdenrecht gestimmt, wenn das Damoklesschwert der Mehrheitsentscheidung über Ihnen geschwebt wäre? Bzw. hätten Sie Vertrauen, dass die Mehrheit der Bevölkerung für mehr Menschenrechte im Bereich Asyl stimmen würde?
Ablinger: Skepsis ist berechtigt bei Themen, die emotional so aufgeladen werden können. Man sieht ja aktuell, wie Ausländerfeindlichkeit politisch benutzt wird. Auch die Abstimmung über Minarette in der Schweiz ist ein Beispiel. Ein Punkt fehlt mir aber in dieser Debatte: Es wächst ja nicht nur die Demokratieverdrossenheit, sondern auch die soziale Ungleichheit. Man kann beobachten, wie die politische Beteiligung seit den 80er Jahren parallel zur wachsenden sozialen Ungleichheit abnimmt. Wenn sich also so viele Menschen ins Abseits gestellt fühlen, dann muss man über diese Zusammenhänge diskutieren.
Mayer: Dass Emotionen rasch mal instrumentalisiert werden, glaube ich nicht. Der direkten Demokratie wirft man eher vor, zu langsam zu sein. In der Schweiz dauert es vom Sammeln der Unterschriften bis zum Gesetzesentscheid zwei bis vier Jahre. In Österreich hat man schon in einem halben Jahr ein Gesetz durchgebracht. Das Tempo ist also nicht die Gefahr. Zum Zweiten: Prof. Haller in Graz hat erhoben, welche Themen die Österreicher überhaupt für Referenden zulassen würden. EU-Fragen wie der Euro-Rettungsschirm gehören dazu, die Todesstrafe und Menschenrechtsfragen aber nicht. Die Angst vor einer Verschlechterung der Standards ist mir deshalb schleierhaft. Und eine Gegenfrage: Was, wenn neue Parteien in das Parlament kommen, die offen ausländerfeindlich agieren? Soll man die auch verbieten? In Kärnten wurde im Baurecht de facto ein Minarettverbot festgelegt. Man hat die Entscheidung, nicht aber die Methode kritisiert. Im Fall der Schweiz wurde beim Minarettentscheid sofort vor der direkten Demokratie gewarnt.
Voggenhuber: Aber jetzt verschleiern Sie etwas: In unserem Volksbegehren war klar festgelegt, dass über Grundrechte, die sich ja aus der Würde des Menschen ableiten, nicht abgestimmt werden kann. Das Minarettverbot ist auch in der Schweiz grundrechtswidrig, deshalb wird es auch nicht vollzogen. Diese Abstimmung ist null und nichtig. Was Sie aber für Kärnten beschreiben, ist ein Fall für den Verfassungsgerichtshof, und bis dieser den Rechtsmissbrauch über das Baurecht aufgehoben hat, dauert es eben. Das Problem ist vielmehr, dass es keinen oder nur sehr eingeschränkten Zugang beschädigter Minderheiten zum Verfassungsgerichtshof gibt.
Sie sind alle politisch eher links angesiedelt, die politische Rechte fordert auch mehr direkte Demokratie. Wie sehen Sie das?
Ablinger: Tatsächlich muss man sich ansehen, ob dieser Ruf nach mehr direkter Demokratie nicht auf autoritären Füßen daherkommt…
Voggenhuber: Immer schon.
Ablinger: … und was mir in dieser ganzen Diskussion fehlt, ist, dass es extrem viele Defizite gibt: im Parlament, in der Frage der Beteiligung und der Gewerkschaften. Denken Sie daran, wie unter Schwarz-Blau die Uni-Mitbestimmung abgebaut wurde …
Voggenhuber: Ich gebe Ihnen schon recht, aber stellen Sie es bitte nicht so dar, dass die direkte Demokratie die Konkurrenz zum Parlamentarismus wäre. Bei aller Skepsis über die Emotionalisierung von Themen oder die Knopfdruckdemokratie im Zeitalter des Internets ist doch das Parlament eindeutig der Gewinner der direkten Demokratie. Wer wird denn appelliert? Das Parlament und nicht die Regierung! Jetzt ist das Parlament doch nur die verlängerte Werkbank der Parteizentralen. Wie ist es jetzt? Jetzt gehen am Ende zwei Leute, der Herr Spindelegger und der Herr Faymann, hinter zwei Polstertüren und erklären ihrer Partei, was zu geschehen hat, die erklären es der Fraktion und die jedem einzelnen Abgeordneten, und dann ist das Gesetz. Mit Demokratie hat das nichts zu tun, nur mit ihrer Verhöhnung.
Und auf welche Weise sollte der Parlamentarismus gestärkt werden?
Mayer: Es gibt das kalifornische Modell, das wollen wir nicht. Da wird das Parlament ausgehebelt. Das Modell, das wir forcieren, ist dreistufig: Eine Initiative mit einer relativ geringen Anzahl an Unterschriften bringt einen Gesetzesvorschlag ins Parlament ein, wo ein gemeinsamer Kompromiss in ein Gesetz münden kann. Gelingt kein Kompromiss, sammeln die Initiatoren mehr Unterschriften und arbeiten einen fertigen Gesetzestext aus. Den kann das Parlament beschließen, oder es kommt zur dritten Stufe: Das Parlament präsentiert einen Gegenvorschlag, und es obliegt dem Volk zu entscheiden, welcher der Vorschläge Gesetz werden soll. Die Regierung spielt in diesem Prozess aber keine Rolle.
Voggenhuber: Die Regierung hat ja in der Gesetzgebung auch überhaupt nichts verloren.
Ablinger: Ich höre Ihnen mit Skepsis zu. Das Volk, wer immer das nun ist, ist auf jeden Fall gut, und die politischen Parteien sind per se schlecht. Ich denke, es gibt unterschiedliche Interessenlagen und unterschiedliche soziale Lagen in der Bevölkerung, die sich je nachdem besser oder weniger gut Gehör verschaffen kann. Zweitens: In der aktuellen Diskussion gilt der Staat als der reinste Verschwender. Das führt dazu, dass die öffentlichen Haushalte permanent ihre Ausgaben reduzieren, was dazu führt, dass Europa in die Krise hineinspart. Wenn man in dieser Situation die Frage der Steuern einem Volksentscheid unterwirft, dann sag ich nur: Gute Nacht, Europa! Und zur Stärkung des Parlamentarismus: Das Parlament ist der demokratische Verhandlungsraum. Wie kann man ihn stärken? Etwa indem man endlich die Ausschüsse öffentlich macht, das ist ganz wichtig. Auch der Begutachtungszeitraum muss aufgewertet werden. Stichwort Liquid Democracy: Man kann die Begutachtung über die digitalen Möglichkeiten sichtbar machen und öffnen. Die Bürger sollten daran beteiligt sein.
Voggenhuber: Da stimme ich zu. Denken Sie an die Ausstattung des Europäischen Parlaments, dort hat jeder Ausschuss ein legislatives Referat. Das heißt, einen juristischen Stab, der bei der juristischen Arbeit berät. Das ganze österreichische Parlament hat kein einziges solches Referat. Das ist ein Skandal! Aber die Ministerien haben eines. Zudem: Der Verfassungsdienst ist nicht beim Parlament angesiedelt, sondern bei der Regierung. Das Parlament ist nicht öffentlich, im Europäischen Parlament können Sie in jeden Ausschuss, in jede Fraktionssitzung gehen. In jeden Untersuchungsausschuss. Bei uns – nichts davon. Kein Geld, keine Ausstattung, keine Arbeitsmöglichkeit. Das Parlamentsgebäude zerbröckelt gerade – das ist hoch symbolisch.