Der gelbe Eber
Alphonse Hategekimana ist Ruander und seit 1985 Schiedsrichter im Wiener Unterhaus. Dabei wollte er nur zum Studieren nach Österreich kommen. Ein Gespräch über Raiffeisen-Fahrräder, die Rapid-Ultras und was Alphonse antwortet, wenn ihn jemand – im Fußballjargon – „schwarze Sau“ nennt.
Text: Stefan Kraft. Fotos: Karin Wasner
Vom ersten Moment dieser Begegnung an bin ich kein Unparteiischer mehr. Vielleicht stimmt es gar nicht, was man über Schiedsrichter sagt. Dass sie sich auf dem Platz genauso verhalten wie im restlichen Leben. Herrisch. Bestimmt. Anmaßend und gebieterisch. Und jedem, der nicht nach ihrer Pfeife tanzt, ins Gewissen reden.
Alphonse Hategekimana ist anders. Auf dem Platz mag er eine Autorität sein – er muss es sogar sein. Er ist Schiedsrichter in den Ligen des Wiener Fußballverbandes, in den Untiefen des Unterhauses, wo man weder als Spieler noch als Offizieller, schon gar nicht als Schiedsrichter aus Afrika, allzu viele Schwächen zeigen sollte. Im privaten Gespräch ist Alphonse so zurückhaltend und zuvorkommend, so höflich und freundlich, dass man daran zweifelt, einem Schiedsrichter gegenüberzusitzen. Noch dazu, wo er sich auf jede Diskussion einlässt, die ich anzettle.
Doch den Beweis erbringt er gerne. Alphonse erzählt vom bevorstehenden Wochenende. Es ist, wohlgemerkt, Winterpause, und Alphonse pfeift am Freitag Abend bei einem Betriebsfußballturnier in der „Soccer-Arena“, am Samstag Nachmittag beim ASVÖ-Nachwuchs, am Sonntag in aller Herrgottsfrüh am WAF-Platz und um 16 Uhr das Spitzenspiel Lindenhof gegen Straßhof auf dem Gelände von Hellas Kagran. Ich nicke achtvoll, und weiß, dass ich von den Wiener Fußballplätzen, auf denen Alphonse seine Einsätze Woche für Woche absolviert, nur die wenigsten persönlich besucht habe. Zum Trost denke ich mir, dass er eben schon viel länger pfeift, als ich über Fußball schreibe.
Premiere vor 30.000
Begonnen, so erzählt Alphonse Hategekimana, hat alles 1981 mit einem Schiedsrichterkurs in der ruandischen Hauptstadt Kigali. Viel später wird er mit einem selten traurigen Ausdruck im Gesicht erzählen, was ich ohnehin schon ahne: dass er dorthin nicht mehr zurück kann und will, nach dem Bürgerkrieg. Aber Anfang der 1980er-Jahre standen die Verhältnisse noch nicht ganz so schlecht und der junge Alphonse, den sie im Internat immer ins Tor gestellt hatten, wollte beim Fußball bleiben, so sagt er, und ein Bekannter im Sportministerium empfahl ihm, doch das Pfeifen zu lernen.
Es gibt wenige SchiedsrichterInnen, die ihr erstes Spiel vor über 30.000 ZuseherInnen absolvierten und anschließend mit der Polizei aus dem Stadion gebracht wurden. Alphonse ist einer von ihnen. Er war als Linienrichter zugeteilt (als man noch „Linienrichter“ und nicht Assistent sagte), im Stadtderby von Kigali. Die eine Mannschaft hieß Electrogaz FC (und würde mit diesem Namen auch in der Wiener Liga nicht auffallen), auf der Gegenseite stand Rayon Sports, aber die zwei Kollegen des neu gekürten Schiedsrichters erschienen nicht. So lag es an Alphonse, das Spiel zu leiten. Der Zorn des Publikums war ihm sicher.
Es gibt auch wenige SchiedsrichterInnen, die bei ihrer Premiere mehr ZuseherInnen haben, als bei den Spielen in ihrer restlichen Karriere. Alphonse ist einer von ihnen. Als er 1983 nach Österreich kam, zum Studieren, suchte er kurze Zeit nach seiner Ankunft den Wiener Fußballverband auf. Ich bin Schiedsrichter, ich habe einen Kurs gemacht, ich möchte hier pfeifen, sagte er damals. Ruanda, was ist das? fragten ihn die Funktionäre. Und überhaupt: Zuerst Deutsch lernen. Wenn ich Moldawien gegen Albanien pfeifen würde, würde mich auch niemand am Platz verstehen, sagt Alphonse heute. Womit er recht hat. Er lernte Deutsch, aber es bedurfte noch einiger „Überredungskunst“, bis er 1985 seine Karriere als schwarzer Schiedsrichter beginnen konnte. Ob er der erste war? Alphonse kann sich an keinen afrikanischen Vorgänger erinnern . Nach ihm gab es auch nur ein bis zwei.
Bis heute (mit ein paar Jahren Auszeit) blieb er dem Wiener Verband treu, pfiff auf der Simmeringer Haide, im Nachwuchs, in der Regionalliga. Und im Hanappistadion. Als die LinienrichterInnen noch LinienrichterInnen hießen, gab es vor den Spielen der Bundesliga auch ein Aufeinandertreffen der „Reserve“, der U21-Mannschaften. Rapid gegen Innsbruck, Rapid gegen Salzburg, da durfte Alphonse Bundesliga-Luft atmen, mit der Flagge in der Hand. In der zweiten Halbzeit war das Stadion meist schon voll, sagt er. Angst hat ihm das keine gemacht, im Gegenteil. Als Schiedsrichter durfte er auch gratis zu den Matches und anstatt sich auf den vorgesehenen Platz zu setzen, betrat Alphonse lieber den gefürchteten Westsektor der Rapid-Fans. In den politisch raueren Achtzigerjahren wohlgemerkt, beim Derby gegen die Austria wohlgemerkt. Sobald ich drinnen gesessen bin und für Rapid geschrien habe, war die Hautfarbe kein Problem, sagt Alphonse. Bier kauften sie ihm, in raueren Mengen. Und vergaßen ihn nicht, die Rapid-Ultras: Vor ein paar Jahren luden sie ihn ein, bei ihrem Fanklubturnier zu pfeifen.
Afrikaner auf Entdeckungsreise
Schiedsrichter in Österreich wollte er unbedingt werden, der Alphonse. Als ob es nicht schon exotisch genug gewesen wäre, in den 1980er-Jahren als ruandischer Student in Wien zu wohnen. Das Wasser plätschert im künstlichen Brunnen des Wartezimmers einer praktischen Ärztin, in der unser Gespräch stattfindet. Alphonse arbeitet hier als Ordinationshilfe, aber das wäre zuwenig gesagt, sagt er. Er verfügt über eine medizinisch-technische Ausbildung. Bauingenieur hätte er werden sollen, auf der TU, aber schon nach den ersten Vorlesungen hielt es Alphonse dort nicht mehr aus. Das Medizinstudium blieb ihm verwehrt, das Stipendiumprojekt erlaubte nur die Pharmazie. Aber auch damit kam Alphonse nicht zurecht, also schrieb er eines Abends einen Brief an die Stipendienstelle, in dem er ankündigte, sein Studium zu beenden. Ein Blackout, sagt er, am nächsten Tag schon wollte er den Brief zurücknehmen. Aber der war schon verschickt.
Dennoch, die Studentenzeit war eine schöne Zeit. Sieben Kommilitonen aus Ruanda wohnten zusammen im Studentenheim im 19. Bezirk auf der Döblinger Hauptstraße; die einzigen Schwarzen weit und breit. Damals gab es nur uns und ein paar Diplomaten, sagt Alphonse, und wenn er mit dem 37er zur Uni gefahren ist, standen die alten Leute hin und wieder auf und gingen weg von seinem Platz.
11 Studenten waren sie insgesamt aus Ruanda, sieben in Wien, der Rest in Leoben. Im Sommer trafen sie sich zum Deutschkurs in Graz, da haben die Leute geschaut, sagt Alphonse und die „Neue Zeit“ titelte mit Gruppenfoto: „11 Afrikaner auf Entdeckungsreise“. Auch ein Erkennungsmerkmal gab die Grazer Tageszeitung an: es handle sich „um Schwarzafrikaner mit Raika-Fahrrädern“. Weil Alphonse und seine Freunde Fahrräder von der Raiffeisen-Bank bekommen hatten.
Schwarze und Rothaarige
Als Schwarzer fällt man eben auf. So wie damals in Hollabrunn, als er zum ersten Mal auf dem dortigen Sportplatz erschien. Da haben sie gesagt, heute wer’ ma verliern, die hom an Schwoazn drinnen, erzählt Alphonse. Nein, nein, ich bin der Schiedsrichter, sagte Alphonse. Und: nein, nein, ihr braucht euch nicht zu entschuldigen.
Als Schwarzer fällst du eben auf, meint Alphonse. Es gibt auch einen rothaarigen Schiedsrichter im Wiener Verband, Matthias heißt er, Matthias Sammer nennen sie ihn, der fällt auch auf, den kennt auch ein jeder. Aber vielleicht hilft es auch, als Schiedsrichter eine Rolle einzunehmen, die einem ansonsten in der Gesellschaft verweigert wird. Und nach jedem Spiel in die Kantine zu gehen und mit den Spielern zu reden, sodass heute kaum noch einer „Schiri“ zu ihm sagt am Platz, sondern nur „Alphonse“.
Es gibt eine lange Pause in unserem Gespräch. Nach der Frage, ob er am Fußballplatz weniger rassistische Beleidigungen erlebt hat als außerhalb des Spielfeldes. Ja, sagt Alphonse nach einiger Zeit, das ist zweifelsfrei so. Denn wenn ihn jemand in der Straßenbahn beschimpft, dann geht es gezielt gegen seine Hautfarbe. Und heute sei man als Schwarzer in erster Linie Drogendealer. Am Fußballplatz ist das anders. Nur einmal, kann sich Alphonse erinnern, nannte ihn ein Zuschauer „schwarze Sau“ (verbreitete Unmutsäußerung von Fans für den Schiedsrichter, Anm.) Er ging hin, verwies auf sein gelbes Trikot und sagte: „Wenn schon, dann gelbe Sau. Außerdem, Sau bin ich keine. Wenn schon, dann ein Eber.“ Und der Andere entschuldigte sich.
Der fast letzte Einsatz
Und wie lange will Alphonse noch pfeifen? Mit 52 Jahren ist Schluss in der Oberliga, sagt er. Es ist seine letzte Saison in dieser Spielklasse. Als Schiedsrichter darf er noch weiter unten berufen werden und an die Linie sogar noch in der Regionalliga. „Ich habe mir kein Ende gesetzt, ich mache einfach weiter,“ sagt Alphonse. „Weil den richtigen Zeitpunkt für den Abgang habe ich ohnehin verpasst.“ Beim Freundschaftsspiel der Wiener Viktoria gegen den legendären FC St. Pauli im vorigen Oktober durfte Alphonse an der Linie stehen. Das, sagt er, das wäre der Moment zum Aufhören gewesen. Aber dann pfiff er doch weiter.