Eine neue Politik formulieren
Der Wirtschaftsforscher Markus Marterbauer sieht die Finanzkrise noch lange nicht überwunden und prognostiziert eine Entsolidarisierung der Gesellschaft. Er fordert eine neue Lohn- und Verteilungspolitik nach dem Vorbild Skandinaviens.
Interview: Gunnar Landsgesell Fotos: Karin Wasner
Sie sind in Schweden geboren, haben Sie noch Kontakt dorthin?
Ja, viel. Ich habe meine Diplomarbeit über Budgetkonsolidierung in Schweden geschrieben, habe viele Freunde dort, habe letzten Sommer sechs Wochen in Schweden mit meiner Familie verbracht.
Würden Sie sagen, die schwedische Gesellschaft ist solidarischer und sozial gerechter organisiert als die österreichische?
Paradiese gibt es nicht, aber in Relation zu Österreich sind die skandinavischen Gesellschaften sicherlich solidarischer organisiert. Das lässt sich an einigen Punkten feststellen. Etwa zwischen Frauen und Männern: Die Einkommensunterschiede sind geringer, das Beschäftigungsausmaß und die Anerkennung ausgeglichener verteilt. Was die gesellschaftliche Teilhabe von Frauen betrifft, ist man dort weiter als bei uns. Auch die Chancengleichheit von Kindern unterer sozialer Schichten ist deutlich stärker ausgeprägt. Das zeigen auch Studien: In Skandinavien besteht die geringste Korrelation zwischen dem Einkommen der Eltern und dem der Kinder, die höchste unter den Industrieländern haben übrigens die USA. Das heißt, dass in Skandinavien Kindern aus Einwandererfamilien der soziale Aufstieg wesentlich einfacher gestaltet wird als in Österreich.
Womit hat das zu tun?
Das hat damit zu tun, wie der Sozialstaat organisiert ist, wie auf soziale Dienstleistungen gesetzt wird. Ein Beispiel ist die Kinderbetreuung: Die Vollversorgung inklusive dem Angebot von Krippen bedeutet, dass jene Kinder, die zu Hause vielleicht eine geringere Förderung von kognitiven, sozialen Fähigkeiten erhielten, davon besonders profitieren. Das hilft ihnen auch im Leben als Erwachsene. Damit wird Frauen zugleich ermöglicht, Familie und Beruf zu vereinen, Männer denken daran oft gar nicht. Das hilft wiederum, die Gesellschaft gleicher zu gestalten und erklärt auch, warum die Sozial- und Gesundheitsindikatoren in Skandinavien viel besser sind als bei uns.
Wie sieht es in Fragen der Vermögensverteilung in Schweden aus?
Die Einkommen sind aufgrund des Sozialstaates gleicher verteilt, die Vermögen aber nicht. Das hängt damit zusammen, dass die Kapitalkonzentration im Unternehmenskapital immer relativ hoch war, dort gab es auch keinen Krieg, in dem der Kapitalstock zerstört wurde. Es gab immer große erfolgreiche Firmen in privater Hand.
Der Untertitel Ihres Buches „Zahlen bitte“ lautet: Die Kosten der Krise tragen wir alle. Wie sehen diese Kosten aus?
Ich glaube, dass die Finanzkrise, die wir noch lange nicht überwunden haben, zu einer zunehmenden Ungleichheit führen wird. Vor allem deshalb, weil erstens die Arbeitslosigkeit merkbar gestiegen ist, wir verzeichnen einen Anstieg von 50.000 Arbeitslosen. Und zweitens, weil die Staatsschulden durch die Krise gestiegen sind. Das bedeutet, dass das Budget konsolidiert werden muss. Nachdem aber drei Viertel des Budgets aus Sozialem, Gesundheit und Bildung besteht, ist die Gefahr groß, dass es hier zu einem Abbau von Leistungen kommt. Gerade dieser Bereich ist aber für die Umverteilung relevant, die Möglichkeiten des Wohlfahrtsstaates, sozial zu regulieren, werden durch die Staatsschulden also beschnitten. Immerhin ist diese Tendenz in Österreich weniger ausgeprägt als in anderen Ländern. In Spanien, Portugal und Griechenland wird der Sozialstaat im Moment zerstört.
Die steigende soziale Ungleichheit ist trotz der Krise eine Verteilungsfrage. Was unternimmt die Politik?
Dieses Anwachsen hat sicherlich auch damit zu tun, dass es der Politik nicht gelingt, die Frage der Vermögensbesteuerung nicht nur zu diskutieren, sondern auch umzusetzen. Es gab immerhin kleine Schritte: Vermögenseinkommen werden seit 2010 erstmals stärker besteuert. Bislang hatten wir das Phänomen, dass realisierte Wertzuwächse bei Aktien oder Immobilien überhaupt nicht besteuert wurden. Die notwendige Besteuerung von Vermögensbeständen ist in Österreich aber nicht gelungen. Hinsichtlich des Anteils der Vermögenssteuern am gesamten Steueraufkommen sind wir mit Tschechien Schlusslicht unter den Industrieländern. Aus meiner Sicht läge hier aber die zentrale Determinante für eine gerechte Verteilung.
Es wirkt so, als würde der Staat seine Möglichkeit, für sozialen Ausgleich zu sorgen, verlieren oder gar verspielen. Warum?
Man muss sich ansehen, aus welchen finanziellen Mitteln der Staat diese Aufgabe bewerkstelligt. Dadurch, dass die Privathaushalte so lange, nämlich seit 1945, Vermögen akkumuliert haben, verfügen sie jetzt über enorm hohe Vermögensbestände, und zwar 1.300 Milliarden Euro. Das ist sieben Mal so viel wie Österreichs Staatsschulden betragen. Diese Vermögensbestände sind aber so ungleich verteilt, dass das oberste Zehntel davon 60 Prozent besitzt. Wenn die Vermögen rascher wachsen als die Arbeitseinkommen, wie es in den vergangenen 20 Jahren der Fall war, dann bedeutet das, dass einerseits die Einkommensverteilung immer ungleicher wird, und andererseits die Möglichkeiten des Staates, umzuverteilen, immer kleiner werden. Das liegt vor allem daran, dass der Sozialstaat sich aus den Arbeitseinkommen finanziert. Deshalb meine These: Die Vermögensverteilung determiniert zunehmend die Verteilungsentwicklung in diesem Land.
Das klingt überzeugend, hört die Politik nicht auf die Experten?
Ich glaube, man hat sich zu lange dem Thema verweigert. Dahinter steht natürlich auch die Frage der Macht. Wenn es um die Vermögensverteilung geht, dann geht es ans Eingemachte. Als Ökonom würde ich aber grundsätzlich sagen, dass die Politik zu wenig berücksichtigt, wie sehr die wirtschaftliche Liberalisierung zu Machtverschiebungen geführt hat. Und dass man in Marktwirtschaften immer aktiv Umverteilungspolitik betreiben muss, um zu verhindern, dass der Trend in die falsche Richtung führt.
Wie können die nationalen Regierungen und Brüssel das verhindern?
Sie müssen die Finanzmärkte regulieren und verkleinern. Diese Märkte sind die Ursache der Ungleichheit, die etwa in den USA regelrecht explodiert ist. Der zweite Punkt ist eine aktive Beschäftigungspolitik: Wenn die Arbeitslosigkeit steigt, wirkt sich das unmittelbar auf die Einkommensverteilung aus. Wir brauchen das Ziel der Vollbeschäftigung. Drittens den Sozialstaat verteidigen und ausbauen, er gerät in ganz Europa unter Druck. Seine Verteilungswirkung muss verbessert werden, insbesondere, wie in Skandinavien, im Bereich der sozialen Dienstleistungen, also der Kinderbetreuung oder der Pflege.
Sie beschreiben den Sozialstaat als eine der wenigen stabilisierenden Kräfte in der Krise. Das klingt mutig in Zeiten, in denen nicht wenige Menschen Forderungen nach dem Abbau sozialer Leistungen geradezu nachbeten.
Man muss nicht mutig sein, nur die Fakten beim Namen nennen. Ich glaube aber, die Politik sollte mutiger sein. Es gibt schlicht Gegner des Sozialstaates, die sich gegen eine gerechtere Verteilung stellen. Dass der Sozialstaat den „kleinen Leuten“ mehr Chancengleichheit verschafft, sehen einige nicht gerne. Die aktuelle Schuldenkrise wird von konservativer Seite als Chance gesehen, den Sozialstaat zu verkleinern. Da geht es um politische Interessen. Deshalb werden auch die Kosten des Sozialstaates so in den Mittelpunkt gestellt. Man hat ja den Eindruck, es würden nur Kosten produziert: für die Unternehmen, für das Haushaltsbudget, eine einzige Belastung. Das Gegenteil ist der Fall: Wir würden viel schlechter dastehen ohne den Sozialstaat. Er sorgt auch für eine Erwartungsstabilisierung der Menschen, sie haben das Gefühl, sich auf ihn verlassen zu können. Der Sozialstaat hat sich auch gegenüber allen privaten Absicherungsformen als überlegen erwiesen.
Muss der Sozialstaat verteidigt werden?
Ja. Wenn Sie sich die Pensionisten in London oder auch bei uns ansehen, die betriebliche Pensionen beziehen, die also auf die Kapitaldeckung vertraut haben. Sie erleben massive Einbrüche ihrer Pensionen, in der Spitze 40 bis 45 Prozent. Das staatliche Pensionssystem hatte keine Verluste, auch hier zeigt sich eine deutliche Überlegenheit des Sozialstaates. Es spricht also viel für dessen Verteidigung und dessen Verbesserung. Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank, verlautbarte kürzlich, das europäische Sozialstaatsmodell habe ausgedient. Ich habe den Aufschrei aus der österreichischen Politik vermisst. Noch dazu, wo diese Wortmeldung von jemandem kommt, der lange Zeit seines Berufslebens im Finanzsystem verbracht hat. Ich würde mir also eine mutigere Politik wünschen. Der Sozialstaat ist aber keine Selbstverständlichkeit, wie man in Spanien sieht. Es gilt, stärker und vehementer aufzutreten.
Wäre das unpopulär?
Das glaube ich nicht. Wenn der österreichische Bundeskanzler in Europa aufsteht und sagt: Ich bin nicht bereit zu akzeptieren, dass in Spanien 51 Prozent der Jugendlichen arbeitslos sind, weil das zu viel für die Gesellschaft und zu viel für Europa ist, dann würde er enorm an sozialem Profil gewinnen.
Vielleicht heißt es dann, was kümmert uns Spanien. Bräuchte es nicht eine Art europäischen Solidaritätsgedanken?
Eine europäische Solidarität müsste sicherlich herausgebildet werden. Wir lassen uns zuviel vormachen, dass das Match Österreich gegen Griechenland oder Deutschland gegen Italien heißt. Aber das Match heißt eigentlich, wenn man es pathetisch formuliert, Finanzmärkte und Vermögende gegen jene Leute, die einen Sozialstaat aufgebaut haben, egal ob in Stockholm oder Athen. Erst dieses soziale System integriert die Menschen und lässt sie Zugehörigkeit zur Mitte der Gesellschaft fühlen. 80 Prozent der Leute in Österreich fühlen sich zurecht als zur Mittelschicht zugehörig.
Welche Rolle spielen MigrantInnen in dieser sozialstaatlich organisierten Gesellschaft?
Solange wir Vollbeschäftigung hatten und die Leute gebraucht haben, wurde die Situation nicht problematisiert. Der große Fehler der Politik war aber, Migranten so zu definieren, dass sie die Spitzen bei Arbeitskräftemangel abdecken. Diese temporäre Sichtweise blieb uns lange erhalten. Das war völlig falsch und wirkte gegen eine Integration. Entscheidend ist aber, wie sehr sie sich hier zu Hause fühlen können, wie sehr sie in das sozialstaatliche System und das gesellschaftliche Leben integriert werden. Heute erkennt man die Ergebnisse dieser Politik. Gerade unter den armutsgefährdeten Menschen ist der MigrantInnenanteil relativ hoch. Dazu trägt auch die mangelnde Integrationsfähigkeit des Bildungssystems bei.
Der Begriff Integration wirkt, nicht zuletzt durch seinen politischen Gebrauch, oftmals nebulos. Woran denken Sie bei Integration?
An ein Modell wie in Skandinavien: Alle haben die gleichen Rechte und Pflichten, der Sozialstaat steht für alle offen und wir müssen uns bemühen, den Kindern aus unteren sozialen Schichten, egal ob das einkommens- oder herkunftsmäßig definiert wird, die gleichen Chancen eröffnen. Das wäre für mich eine Gesellschaft, die integrativ wirkt.
Zum vorhin erwähnten Stichwort der Vollbeschäftigung. Wie könnte ein gesamtgesellschaftlich integrativer Arbeitsmarkt aussehen? Wäre dafür nicht eine Verkürzung der Arbeitszeit nötig?
Sicherlich. Aus Umfragen zu schließen hat ein Großteil der Menschen das Bedürfnis, 30 bis 32 Stunden zu arbeiten. Im Vergleich dazu arbeiten Männer derzeit deutlich mehr, Frauen deutlich weniger. Das bedeutet für mich, dass man sich für Männer Maßnahmen zur Verkürzung der Arbeitszeit überlegen kann. Für Frauen kann sie aber steigen, statt 15 Stunden Teilzeit könnten sie auch 30 Stunden arbeiten. Eine Adaption würde also nicht für alle eine Verkürzung bedeuten. Dazu muss man natürlich Konzepte rund um Beruf, Familie, Weiterbildung entwickeln. Temporäre Arbeitszeitverkürzungen wären ein Stichwort.
Falls weniger Arbeitszeit auch weniger Einkommen bedeutet, könnte das finanziell für manche knapp werden. Wie sähe ein Ausgleich aus?
Das ist eine Frage der Lohn- und Verteilungspolitik. Skandinavien, aber auch Belgien oder Frankreich haben vorgezeigt, dass es hier Lösungen gibt. Man muss Arbeitszeitverkürzungen über Kollektivverträge regeln, das lässt sich gestalten. Länder, die hinsichtlich der Vereinbarkeit mehr verändert haben, haben zum Beispiel das Recht auf eine Auszeit definiert, so wie in Dänemark. Die Bildungskarenz wird dort durch Ausgleichszahlungen des Staates begleitet, wobei das Arbeitslosengeld dort viel höher ist als bei uns und bei 80 bis 90 Prozent liegt.
Noch scheinen aber Spardruck und Krisenmanagement Ziele der Vollbeschäftigung abgelöst zu haben. Wer glauben Sie, könnte dafür sorgen, dass eine soziale, im weitesten Sinn solidarische Ausrichtung der Politik nicht vergessen wird?
Es lässt sich mehrfach beobachten, wie sich die Zivilgesellschaft formiert – von der Occupy-Bewegung an der Wallstreet bis zu den Demonstrationen der Jugendlichen in Madrid oder Athen. Ich sehe mehrfache Kräfte, die einen Wandel auslösen können, die Bürger selbst, auch die Gewerkschaften und auch die Wahlen der politischen Repräsentanten. In Frankreich wurde eben ein Wechsel vollzogen. Es liegt nun an den sozialdemokratischen Parteichefs, Hollande anzurufen und eine neue Politik zu formulieren. Die Möglichkeit für eine andere Gesellschaft ist vorhanden.