Dublin-II Asyl: Richtig stranden
In Europa werden Flüchtlinge munter hin- und herverschickt. Das Dublin-Verfahren will es so. Sinn macht die geltende Regelung aber keinen. Europa braucht dringend gemeinsame Standards für die Asylpolitik. Text: Nasila Berangy Fotos: Karin Wasner
Der 7. Dezember ist für Abdullah Shahlemi ein Tag, der ihm immer in Erinnerung bleiben wird. Zwei Mal hat er an diesem Datum in Österreich einen Asylantrag gestellt. Das erste Mal im Jahr 2009, damals wurde sein Antrag abgewiesen, der junge Afghane nach Ungarn, von wo er eingereist war, abgeschoben. So will es die Dublin-II-Verordnung. In Österreichs Nachbarland kam der heute 20-Jährige sofort in Schubhaft. Ungarn ist dafür berüchtigt, schutzsuchende AsylwerberInnen, pauschal in Schubhaft zu stecken. Ruth Schöffl, Pressesprecherin des UN-Kommissariats für Flüchtlinge (UNHCR), bezeichnet das Land als Sorgenkind. In gewissen Ländern wie etwa Griechenland, Italien und eben auch Ungarn, würde es für Flüchtlinge an Schutzstandards fehlen. Deshalb müsse man bei jeder Dublin-II-Überstellung darauf achten, wohin man diese Menschen schickt, fordert Schöffl. Sie sieht die Staaten ihrer Verantwortung keinesfalls entbunden, auch wenn es die Dublin-II-Verordnung gibt.
Eine Richtlinie mit Mindeststandards
Ziel war es, Richtlinien zu schaffen, die Mindeststandards in verschiedenen Bereichen festlegen. Eine der ersten Verordnungen, war die Eurodac-Richtlinie. Diese regelt die Abnahme von Fingerabdrücken von AsylwerberInnen und von Menschen, die beim Versuch, illegal Grenzen zu übertreten, festgenommen werden. Die abgenommenen Fingerabdrücke kommen in den Zentralcomputer, der in Straßburg steht. Das Eurodac-System dient der Unterstützung der Dublin-II-Verordnung. Für Herbert Langthaler von der „asylkoordination österreich“ ist dabei das Pferd von hinten aufgezäumt worden. Denn die Verordnung gehe von gleichen Standards in ganz Europa aus. Das ist nicht der Fall. Langthaler so wie Schöffl vom UNHCR kritisieren die Abfolge der einzelnen Maßnahmen und fordern ein vereinheitlichtes und gemeinsames europäisches Asylsystem. Damit sollen die Kriterien für die Anerkennung von AsylwerberInnen einem festgelegten Standard entsprechen und so auch vergleichbare Entscheidungen innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten möglich werden.
Für die Flüchtlinge selbst hat Dublin-II im Wesentlichen nur einen positiven Effekt, nämlich die Möglichkeit der Familienzusammenführung. Allerdings wird der Familienbegriff sehr eng gefasst, nämlich die Kernfamilie bestehend aus Ehepartnern mit minderjährigen Kindern. Schöffl beanstandet, dass Geschwister, Onkel und Tanten sehr wohl auch enge Familienmitglieder sind, die für Asylsuchende Unterstützung bieten können. Auf die individuelle Situation der AsylwerberInnen wird im Verfahren keine Rücksicht genommen, auch das hält Schöffl für problematisch. Welche Sprachen die Menschen sprechen, ob sie familiäre Anknüpfungspunkte oder Bekannte in einem Land haben, ob es „ethnische“ Netzwerke gibt, spielt im Entscheidungsprozess der Behörden keine Rolle. „Das alles sind klare Defizite von Dublin“, so die UNHCR-Frau. Langthaler erzählt von einem Fall, in dem ein junger Mann aus Afghanistan bereits vier Jahre bei seinem Bruder in England gelebt und studiert hatte und der schließlich dennoch nach Österreich zwangsüberstellt wurde, da er seinen Erstantrag hier gestellt hatte. Sicherlich wäre es sinnvoll gewesen, wenn Großbritannien von seinem Selbsteintrittsrecht Gebrauch gemacht hätte und das Verfahren des bereits integrierten Flüchtlings einfach übernommen hätte, anstatt ihn neuerlich aus seinem Leben zu reißen. Von diesem Recht macht aber kaum ein Staat Gebrauch.
Asyl abgelehnt
Shahlemi jedenfalls kam nach einem Aufenthalt in der Ukraine und Moskau erneut nach Wien und stellte genau ein Jahr nach seinem Erstantrag, also im Dezember 2010, einen Asylantrag. Ein Freund seines Vaters hatte einen Schlepper bezahlt, der ihn in einem LKW zwischen Kartons versteckt hatte und ihn so nach Wien brachte. Dabei beging er einen fatalen Fehler, wie er selbst heute weiß: Bei den Behörden gab er an, er wäre direkt aus Afghanistan gekommen, obwohl das nicht stimmte. Shahlemis Familie wurde schon vor Jahrzehnten in eine mörderische Fehde verwickelt, sein Großvater, ein früherer Parlamentarier, umgebracht. Der Mörder des Großvaters sitzt heute selbst als Abgeordneter im Parlament, ein Grund, warum Shahlemi bei seiner Rückkehr immer noch verfolgt würde. Tatsächlich flüchtete er mit seiner Familie schon früh nach Pakistan, wo er auch die Schule besuchte und mit der Matura abschloss. Als er dort in einer ethnischen Auseinandersetzung Opfer einer Messerattacke und schwer verletzt wurde, bekam sein Vater Angst um das Leben seines Sohnes. Deshalb verließ Shahlemi Pakistan Richtung Wien.
Dass er den österreichischen Behörden angegeben hatte, aus Afghanistan zu kommen, bereut er rückblickend: „Ich war wochenlang unterwegs, verunsichert und hatte Angst. Ich dachte, ich müsste mehr zu meiner Geschichte sagen, damit man mir auch glaubt.“
Das wirkte sich aber dramatisch auf sein Verfahren aus. Obwohl er Zeugen für seinen Leidensweg hätte, die aussagen können, wer er ist, wer sein Großvater war, und dass die Familie im heutigen Afghanistan in Lebensgefahr wäre, bekam er nicht einmal mehr einen Interviewtermin, bei dem er sich erklären hätte können. „Abgelehnt“, das steht auf seinem Asylantrag. Dass seine beiden Großväter und auch Cousins in Afghanistan ermordet wurden, er selbst mit dem Leben bedroht sei, konnte er nicht mehr vorbringen. Seinen Vater habe man verschont – dieser lebt mit der restlichen Familie in Pakistan –, als Mahnung habe man ihm einige Finger abgetrennt.
Mittlerweile erhielt Shahlemi subsidiären Schutz, was soviel bedeutet, dass er solange in Österreich bleiben darf, bis sich die politische Lage in Afghanistan beruhigt hat. Spätestens dann muss er aber auch zurück, ungeachtet seiner Lebenssituation in Österreich.
Bis dahin möchte der junge Mann sein Studium fortsetzen. Sein nächstes Dilemma ist, dass Österreich seine Matura nicht anerkennt. Also befindet er sich derzeit in Vorbereitung auf eine Deutschprüfung auf Niveau B2. Ob er das alles schafft, weiß er selbst nicht. Zu viele Rückschläge gab es bisher in seinem Leben.
Österreich: zu wenig lösungsorientiert
Wie aber steht Österreich nun zur Dublin-II-Verordnung? Die Bundesregierung unterstützt grundsätzlich Dublin-II und macht sich auf EU-Ebene für die Fortführung dieses Systems stark. Für Herbert Langthaler verhält sich Österreich damit unglaubwürdig, wenn nicht frech. Langthaler: „Solange Österreich die Außengrenze gebildet hatte, hat man immer gejammert und die Solidarität von den anderen Staaten eingefordert.“ Heute ist Österreich, so wie auch Tschechien und die Schweiz – sie ist auch Teil des Dublin-Vertrages – eines der wenigen Binnenländer und profitiert davon, dass es keine einheitliche EU-weite Regelung in Asylfragen gibt. Österreich sei vielmehr damit beschäftigt, andere Länder für Probleme verantwortlich zu machen, anstatt sich an Lösungen zu beteiligen. Das sei insgesamt eine bequeme Situation, in der man bei Bedarf auch die Grenzen hochziehen könne, ärgert sich Langthaler. Er spricht von einer „unsolidarischen“ und „lächerlichen Haltung“ in dieser Frage, denn Österreich habe eine gute Tradition in Sachen Flüchtlingshilfe. Langthaler erinnert an den Anfang der 1990er Jahre, als 90.000 Menschen aus dem zerbrechenden Jugoslawien nach Österreich geflüchtet sind. Rund 60.000 von ihnen sind bis heute geblieben. Langthaler: „Der österreichischen Wirtschaft hat das offenbar überhaupt nicht geschadet. Im Gegenteil, auch die Transnationalität von Menschen ist eine Ressource.“
Wie unsinnig die derzeitige Dublin-Regelung ist, verdeutlicht Langthaler an einem Beispiel. Seit Jahren werden etwa aufgrund eines bilateralen Abkommens Asylsuchende aus Frankreich nach Österreich und im Gegenzug Menschen aus Österreich nach Frankreich verschickt, da jeweils das andere Land ihr „Erstaufnahmeland“ war. Dass jeweils gleichgroße Menschengruppen zwischen den Ländern hin und her getauscht werden hat keinen anderen Grund als eben den, dass Dublin II es so will. „Lastenaufteilung“ nennen die Regierungen die damit entstehenden Belastungen für die Menschen.
Besonders solidarisch ist diese „Aufteilung“ aber nicht. Anstatt über eine Quote innerhalb der EU einen Ausgleich zu schaffen, wird möglichst viel Druck auf die Außenstaaten ausgeübt, Flüchtlinge im Land zu behalten und ihre Grenzen aufzurüsten. Staaten wie Italien kritisieren die Dublin-II-Verordnung – durchaus nachvollziehbar – als ungerecht und fühlen sich einseitig belastet. Andererseits, wirft Schöffl ein, sei nicht jeder Mensch, der nach Italien kommt, auf Asylsuche. Gerade während des arabischen Frühlings, als rechte Populisten – einmal mehr – eine Welle von AsylwerberInnen prophezeiten, ist das nicht eingetreten. Als aus Libyen libysche StaatsbürgerInnen, aber auch SomalierInnen und SudanesInnen mit Booten und Schiffen nach Italien kamen, suchten nur die zwei letztgenannten Gruppen um Asyl an, während die LibyerInnen zum Großteil aus Arbeitsgründen das Land verließen. Die Zahl der tatsächlich Asylsuchenden schätzt die UNHCR-Sprecherin auf rund 20.000, für ein Land wie Italien sei das jedenfalls kein riesiger Menschenstrom. Italien meldet sich also auch aus strategischen Gründen, wenn es Europa wissen lässt, dass es seine humanitären Aufgaben nicht bewältigen könne. Freilich ändert das nichts daran, dass Dublin-II keine gerechte Lösung bietet. Und sollte tatsächlich einmal ein riesiger Flüchtlingsstrom kommen, dann würde das Dublin-System sehr deutlich seine eigenen Grenzen aufzeigen. Dass Rom sich gar nicht zu helfen weiß, kann man jedenfalls nicht behaupten. Als die anderen Staaten Italien ihre Solidarität verweigerten, stellten die italienischen Behörden den AsylwerberInnen kurzerhand Aufenthaltstitel aus. Damit konnten die Flüchtlinge in andere EU-Staaten weiterreisen. Zuständig für ihre Verfahren blieb Italien natürlich dennoch. Griechenland, zwischen ressourcenbedingter Überforderung und möglicherweise bewusster Abschreckung, scheint einen anderen Weg zu gehen. Schubhaft statt Betreuung. Selbst einen Asylantrag zu stellen, ist nicht mehr so leicht. In Griechenland kann, so Langthaler, nur noch einmal in der Woche ein Antrag gestellt werden. Sechs Tage die Woche hat die Behörde geschlossen.
Griechenland und Belgien verurteilt
Aus Perspektive der Menschenrechte kann immerhin als Erfolg angesehen werden, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einem Urteil im Jänner 2011 entschieden hat, Griechenland aus dem Dublin-II zu kippen. Teils fürchterliche Schubhaftbedingungen und sehr lange Verfahren waren der Anlass dafür. Auch Belgien wurde verurteilt, als es einen afghanischen Flüchtling trotzdem nach Griechenland überstellt hat.
Im österreichischen Innenministerium scheint das EGMR-Urteil sich noch nicht bis zu allen Beamten durchgesprochen zu haben. Auf Anfrage ließ man MO wissen, dass „das Ministerium für Inneres für die Vollziehung zuständig [ist] und nicht für die Frage, ob Dublin Sinn macht oder nicht.“ Und, ein Sprecher weiter: „Nach Griechenland gibt es keinen generellen Abschiebestopp, sondern nur Einzelfallüberprüfungen.“ Das Ministerium kommentiere als Vollzugsbehörde keine Gesetze. Wie dem auch sei, Fakt ist, dass seit dem EGMR-Urteil aus Österreich keine Überstellungen in das krisengebeutelte Mittelmeerland mehr stattfanden.
„Dublin ist gescheitert“
Dass erst der Europäische Gerichtshof ein solches Urteil fällen musste und kein Gericht in den Nationalstaaten in seiner Rechtsprechung zu dieser Expertise kam, bezeichnet Langthaler als schockierend. Man kann vielleicht auch daran die Partikularinteressen der einzelnen Nationalstaaten ablesen, die vor allem auf die Reduktion eigener Belastungen ausgerichtet sind. In Deutschland zeigt das Urteil mittlerweile Auswirkungen. Die deutschen Höchstgerichte untersagten mehrere Rückstellungen nach Italien und Ungarn und begründeten das damit, dass eine Rückführung sowohl aus politischen wie auch aus humanitären Gründen untragbar sei. Auch im Fall von Italien bemängeln NGOs die Versorgungssituation von AsylwerberInnen immer wieder. Österreich scheint davon unbeeindruckt und schiebt weiterhin Menschen in beide Länder ab. 2011 wurden rund 130 Menschen nach Ungarn und etwas mehr nach Italien überstellt. Im gesamten gesehen ist das eine ziemlich geringe Anzahl. Gemessen an den Verfahrensaufwänden und Kosten, die dabei anfallen, steht das Ergebnis dazu in keinem Verhältnis. Auch wegen solcher Transaktionen bezeichnete der Europäische Flüchtlingsrat (ECRE) Dublin-II als gescheitert. Es sei ineffizient und teuer, das Prinzip der Überstellungen sei ungenügend geregelt, während sich die Zahl Anträge nicht verringert und Verfahrensdauer nicht verkürzt haben, lautet das harsche Urteil.
Das wirft die Frage auf, ob die Erstland-Regelung nicht vor allem der Politik dient, sich mit harter Hand gegen Flüchtlinge zu profilieren und das eigene Land vor ihnen zu „beschützen“. Nimmt man die absoluten Zahlen, geht es keineswegs um jene Menschenmassen, mit denen populistische Politik operiert. Insgesamt kommen in Europa drei bis fünf Prozent der Menschen aus Drittstaaten. Nur eine sehr geringe Prozentzahl der Flüchtlinge schafft es bis nach Österreich oder in andere EU-Länder. Die meisten der Flüchtlinge sind so genannte Binnenflüchtlinge und bleiben in einer anderen Region ihres Landes. Oder sie suchen in den Nachbarländern Schutz. Afghanistan ist ein gutes Beispiel dafür, rund zwei Millionen Afghanen leben im Iran, andere in Pakistan. Auch der aktuelle Bürgerkrieg in Syrien zeigt, dass Flüchtlingsströme vor allem in nahe Grenzregionen führen, in diesem Fall in jene der Türkei. Für Helmut Langthaler ist ein wichtiger Lösungsansatz, Flüchtlingen dort zu helfen, wo sie sich aufhalten, in den provisorischen Flüchtlingslagern solcher Nachbarstaaten. Dennoch sollten auch afghanische Flüchtlinge, die im Iran sind, seiner Meinung nach die Möglichkeit bekommen, nach Europa zu kommen. Als Beispiel führt er Kanada an, das jedes Jahr einer bestimmten Anzahl von Flüchtlingen die Einreise erlaubt, ohne dabei die Topausgebildeten zu selektieren. Kanada sieht zudem großzügige Regelungen vor, die auch erwachsenen Kindern erlaubt, innerhalb eines Jahres den Eltern nachzureisen. Das gängige Argument von Kanadas Größe und der vorhandenen Ressourcen lässt Langthaler nicht gelten. Nach wie vor ist Österreich eines der reichsten Länder der Welt. Auch für Dublin-II hat Langthaler einen Vorschlag: es schlicht abzuschaffen.