Die Mittelschichtslüge
Die Reichen reden sich arm, die Armen halten sich für wohlhabend. Warum niemand in Österreich der Ober- und der Unterschicht angehören will.
EINE KOLUMNE VON MARTIN SCHENK
Mainstream zu sein ist nicht wirklich sexy. Zumindest was das Kulturelle betrifft. Und was das Individuelle angeht. Es zählt das Besondere, die Einzigartigkeit, die Ich-Aktie, das Unverwechselbare, der je eigene Ausdruck in Musik, Gewand und Einrichtung. Mach dein Ding! Blök nicht mit der Meute! Durchschnittstyp? Nein, danke.
Nur beim Geld und beim sozialen Status, da ist Schuss mit lustig. Da zählt dann die Mitte. Wir ziehen eine Linie. An einem Ende stehen die Ärmsten, am anderen die Reichsten. Wenn man nun fragt, auf welcher Position dieser Linie sich die Reicheren einschätzen würden, dann zeigen sie auf die Mitte. Fragt man die Ärmeren wo sie sich selbst sehen, ordnen sie sich ebenfalls dort ein: in der Mitte.
Ingesamt wird die Mitte massiv überschätzt. Das ist der Grund, warum sich die Figur der Mitte so gut eignet, die wahren Verhältnisse zu vernebeln. Denn die Mittelschicht ist offensichtlich eine Sache des Standortes. Sie ist meist dort, wo die Meinungseliten sie haben wollen. Am liebsten bei 4.000 Euro Einkommen. Die Mitte wird tendenziell immer zu hoch geschätzt. In Wirklichkeit beträgt der Median, also die Mitte der Einkommen Angestellter 1.995 Euro, der von ArbeiterInnen 1.605 Euro brutto. Nimmt man das Haushaltseinkommen, also das gesamte verfügbare Einkommen eines Monats, von dem eine Person lebt, dann befindet sich die Mitte – der Median – bei 1.478 Euro netto. Wenn KommentatorInnen von einer Mittelschicht mit 3.500 Euro Einkommen schreiben, dann sprechen sie nur von knapp zehn Prozent aller EinkommensbezieherInnen. Das soll also die Mittelschicht sein? Da gehen versteckte Interessen einer kleinen Minderheit ab durch die Mitte.
So ist es zu erklären, dass die Mittelschicht für Steuergesetze stimmt, die die Oberschicht einseitig privilegieren. Von der ökonomischen Entwicklung der vergangenen Jahre haben besonders die obersten zehn Prozent der Bevölkerung profitiert. Die untersten Einkommen haben verloren und die Mitte wurde unter Abstiegsdruck gesetzt. Die Mittelschicht benimmt sich so gesehen völlig irrational. Weil sie zu viel Energie in die Verachtung der Unterschicht steckt und dem fatalen Glauben anhängt, sie sei privilegiert. Diese Mittelschichtslüge liegt im Interesse von Leuten wie dem ehemaligen Banker Thilo Sarrazin. Sarrazin glauben heißt am eigenen Abstieg bauen. Die Folge: Die Reichsten rechnen sich arm, während die Armen reich gerechnet werden. Und die Mitte zahlt. Blök nicht mit der Meute! Ja, bitte.