Verschleierte Wirklichkeit
Ehrenmord heißt in der österreichischen Kultur Eifersuchtsdrama. Der Zwang zur Verschleierung zeigt sich im Westen als Zwang zur Entblößung. Die treibende Kraft dahinter, sagt Kulturwissenschafterin Christine von Braun, ist dort wie da dieselbe. Interview: Maria Sterkl, Bild: Bernhard Kummer
Wenn vom Islam die Rede ist, kommt immer auch das Bild des Frauenverachtenden muslimischen Mannes zur Sprache. Auffallend dabei ist, dass vor allem rechte Männerbünde, die sonst nie gegen Sexismus auftreten, sich plötzlich als Hüter der Frauenrechte darstellen.
Genau – und das können Sie schon im 19. Jahrhundert beobachten:
Als Ägypten noch britische Kolonie war, gab es einen englischen Gouverneur, der sich in Ägypten für die Befreiung der Frau einsetzte. Er sagte den Männern: Ihr werdet nie ein moderner Staat werden, wenn eure Frauen nicht emanzipiert und entschleiert sind. Aber in England war er Leiter des Männerverbands gegen das weibliche Stimmrecht. Daran kann man sehr genau sehen, wie paradox argumentiert wird: Die Frauen der anderen können sich gerne emanzipieren - aber die Frauen im eigenen Land sollen bitte zuhause bleiben.
Die österreichische Innenministerin hat vorgeschlagen, für Zwangsheiraten oder Ehrenmorde den Straftatbestand ‚Kulturdelikt’ einzuführen: Man müsse ‚die Dinge beim Namen nennen’, um bei den Tätern ein ‚Unrechtsbewusstsein’ zu schaffen. Ein guter Vorschlag?
Ich finde das höchst problematisch. Das ‚Kulturdelikt’ relativiert ja eigentlich das Verbrechen. Unser Gesetzbuch erlaubt es durchaus, Straftaten wie Ehrenmorde oder Zwangsheirat zu verfolgen. Dazu bedarf es keines neuen Begriffes. Aber wenn man es ein Kulturdelikt nennt, dann sagt man damit: Eigentlich kann diese Person gar nicht anders handeln, die Kultur schreibt es ihr ja vor. Außerdem steckt dahinter die Behauptung, Ehrenmorde oder Zwangsheirat seien automatisch Teil der islamischen Kultur. Und das stimmt einfach nicht. Ehrenmord ist ein archaisches Ritual, das sich in islamische Gesellschaften hinein erhalten hat und das in diesen Gesellschaften auch geächtet worden ist. Und bis in die 1950er-Jahre gab es Ehrenmorde auch in Griechenland, in Kreta, und weiterhin auch in Südamerika, also in christlichen Gebieten.
Während Ehrenmorde in Deutschland – zu Recht – umfangreiche Medienberichterstattung nach sich gezogen haben, so werden Morde deutscher Ehemänner an ihren Frauen meist in Kurzmeldungen und als Familientragödien abgehandelt. Sehen Sie dafür eine Rechtfertigung?
Nein. Dass jeden zweiten Tag irgendwo eine Frau von ihrem Ehemann umgebracht wird, weil sie sich von ihm trennen will, und dass dies nur als Familientragödie betrachtet wird, das ist wirklich ein problematisches Phänomen, über das sich unsere Gesellschaft Gedanken machen müsste. Das christliche Ehe-Ideal hat die Vorstellung genährt, dass die Beziehung von Mann und Frau untrennbar ist. Will sich eine Frau daraus lösen, folgt der Schluss, dass sie gegen die höchste Einrichtung verstoßen hat und des Lebens nicht mehr würdig ist. Es gab in den USA bis in die 1970er-Jahre Staaten, die Männern das Recht gaben, ihre Frauen zu töten, wenn sie fremdgegangen waren. Die Logik ist ganz ähnlich wie beim Ehrenmord: Beim Ehrenmord steht die Ehre der Gruppe oder des ‚Stammes' auf dem Spiel, bei der Tötung des Partners, der sich getrennt hat, die Ehre der Ehe.
Sind weibliche Stereotype – Frauen seien emotionaler, fürsorglicher – in muslimischen Gesellschaften weniger verbreitet als im Westen?
Die Idealisierung der Mütterlichkeit ist überall gleich verbreitet. Im Westen ist aber seit den letzten hundert Jahren ein weiteres Ideal dazu gekommen: Die sexuelle Verfügbarkeit des weiblichen Körpers jederzeit, auch und gerade im öffentlichen Raum – das ist ein weiterer kategorischer Imperativ, der neben das Mutter-Sein getreten ist und der im Islam weniger verbreitet ist.
Beim Thema Kopftuch gehen die Emotionen hoch: Kaum eine Integrations-Diskussion, bei der nicht über den muslimischen Schleier polemisiert wird. Warum stürzt sich alles auf das Kopftuch – und nicht zum Beispiel auf den langen Bart, oder die Gebetskette?
Auf das Kopftuch lassen sich alle möglichen Wünsche und Normen projizieren, die zum Teil religiös, zum Teil politisch sind. Wer einen bestimmten Bart trägt, der hat zwar eindeutig eine Art religiöser Gruppenzugehörigkeit, aber das Kopftuch ist auch politisch – auch für die Trägerin des Kopftuchs selbst. Das kann man ganz deutlich sehen an den Unterschieden zwischen der Türkei, wo für einige Studentinnen das Kopftuchtragen zum Emanzipationssymbol wird, während im Iran viele Frauen nur unter Zwang den Schleier tragen.
Kann das Kopftuch für muslimische Immigrantinnen auch Mittel zur Emanzipation sein?
Absolut. Das hat man schon in Ägypten sehen können. Als das Land in den 1950er-Jahren allmählich in einen modernen Staat überging, da begannen junge Frauen aus nichtstädtischen, teils sogar aus analphabetischen Familien, die in die Stadt gingen, um sich eine höhere Ausbildung anzueignen, plötzlich das Kopftuch zu tragen. Und das gilt in noch stärkerem Maße für Frauen, die aus ihrer Heimat nach Deutschland kommen, die sich hier Bildung aneignen, aber gleichzeitig nicht aussehen wollen wie eine westliche Frau, sondern ein Bekenntnis ablegen wollen zu ihrer eigenen Kultur.
In Ihrem Buch ‚Verschleierte Wirklichkeit’ stellen Sie dem Zwang, sich zu verschleiern, den westlichen Zwang, sich zu entblößen, gegenüber. Ich kann mich aber als österreichische Frau diesem Zwang der Entblößung doch leichter entziehen als beispielsweise eine saudiarabische Frau dem Zwang zur Verschleierung.
Das stimmt in Maßen. Der Zwang läuft auf ganz anderen Ebenen im Westen. Wenn Sie sich anschauen, wie viele junge Frauen im Westen bei bitterer Kälte nabelfrei und in kurzen Miniröcken herumlaufen, weil es diesen Gruppenzwang gibt, seine Haut zu zeigen, dann wissen Sie, dass es sich hier nicht nur um Freiwilligkeit handelt. Es gibt einen ausgesprochenen Druck auf die westliche Frau, sich zu entkleiden.
Wer im Westen den Zwang zur Entblößung kritisiert, wird sofort als prüde, verklemmt, sexuell beschränkt dargestellt. Warum ist es so schwer, hier zu differenzieren?
Das ist wirklich eine interessante Frage: Jährlich werden – laut Aussage von Interpol und der Europäischen Kommission – 500.000 Frauen und Kinder zum Zweck der sexuellen Verfügbarkeit in die Länder der EU importiert. Dort wird immer mit der sexuellen Freizügigkeit argumentiert. Die Parolen der Frauenbewegung – Mein Bauch gehört mir, meine Sexualität gehört mir – werden jetzt zu Instrumenten, mit denen sogar Menschenhandel durchgeführt wird. Das ist höchst problematisch. Die Frage der sexuellen Freiheit wird für einen Zweck missbraucht, der niemals im Sinne der feministischen Emanzipation war.
Dienen muslimische Frauen den westlichen Frauen auch als Projektionsfläche, um den eigenen Selbstwert zu steigern – hier das unterdrückte, unselbständige, sexuell eingeschränkte Weibchen, da die emanzipierte, selbständige, freizügige Frau?
Absolut. Das sehe ich bei jenen Teilen der feministischen Bewegung, die nur das Ziel verfolgen, das Kopftuch herunter zu reißen, und die nicht begreifen, dass man differenzieren muss: Es gibt tatsächlich einige Mädchen oder Frauen, die von ihren Familien gezwungen werden, das Kopftuch zu tragen. Aber es gibt auch viele Frauen, die es tragen wollen. Da einfach nur die Parole auszugeben: Kopftuch weg, dann sind diese Frauen emanzipiert, greift viel zu kurz, und dient nur der Selbstvergewisserung der eigenen Überlegenheit. Das hat man schon im 19. Jahrhundert gesehen: Die ersten Frauen, die den Orient bereisten, traten immer mit diesem Anspruch auf: Wir leben in einer fortschrittlichen Gesellschaft, in der es
Frauen gut geht. Dabei kämpften sie selber noch um ihr Stimmrecht und der Zugang zu den Universitäten war ihnen verboten. In dieser Zeit gab es in Ägypten schon längst eine Hochschule, in der Ärztinnen ausgebildet wurden.
Wenn es gelingt, mit einem kleinen Stück Stoff für solche Provokation zu sorgen, dann wäre das doch gefundenes Fressen für rebellierende Teenager ohne Islam-Hintergrund: Der Schleier als neues Punk-Symbol?
Das ist durchaus denkbar. Wenn man sieht, wie viele meiner Studentinnen mit Röcken über Hosen herum laufen, ohne zu wissen, dass das eine pakistanische Kleidungsart ist, dann halte ich es für denkbar, dass auch junge, aufsässige Frauen sagen: Ich möchte ein Kopftuch tragen, wie meine muslimische Nachbarin. Allein um die Bürgerlichen zu ärgern.
Maria Sterkl ist Redakteurin von DerStandard.at.
Zur Person
Christina von Braun lehrt seit 1994 als Professorin für Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin. Publikationen u.a.: Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen. Berlin 2007