Kartoffeln schälen in Polen
Sollen straffällig gewordene Jugendliche in Bootcamps gesteckt werden? Das Vorarlberger Institut für Sozialdienste schickt Jugendliche auf polnische Bauernhöfe oder nach Indien. Zur Erlebnispädagogik. Von Jutta Berger
Da war nur noch Streit. Ein Jahr lang jeden Tag Streit und Tränen“, erzählt Nina Blank (16) über die Zeit vor dem Jugendintensivprogramm (JIP). „In der Schule ist es total bergab gegangen.“ Schließlich verweigerte sie, brach die Hauptschule ab. Ähnlich Jill Laner, heute 18 Jahre alt. Sie beschloss mit 16 „aus der Normalität auszubrechen“. Tauschte Schule und schönes Einfamilienhaus gegen Straße und Jugendzentrum. Gemeinsam mit der jüngeren Schwester machte sie auf Totalverweigerung.
„Wir waren die Hip-Hop-Girlies der Gangstercrew“, lacht sie über die frühere Jill und schüttelt den Kopf, „das klingt voll nach Klischee, aber so waren wir drauf“.
„Die Hälfte aller JIP-Jugendlichen sind SchulverweigerInnen“, sagt Martina Gasser.
Die Vorarlberger Psychotherapeutin entwickelte vor zehn Jahren das Jugendintensivprogramm JIP des Instituts für Sozialdienste, ein Therapieangebot, das dort ansetzt „wo andere Interventionen nicht mehr greifen“, geschaffen aus der Erkenntnis, „dass unser Helfersystem massiven Verhaltensauffälligkeiten gegenüber hilflos ist“.
Skin-Mädchen in Auschwitz Pro Jahr gehen zwölf Jugendliche, zugewiesen von der Jugendwohlfahrt, für zehn Wochen zu zweit, begleitet von einer/einem speziell geschulten Betreuer/in, auf Auszeit. Weit weg von westlicher Konsumwelt, Freunden und Familie suchen die Jugendlichen nach (Aus)Wegen. Das zehnwöchige Auslandsprogramm be-ginnt mit einer Trekkingtour, ist aber mehr als Erlebnispädagogik, denn anschließend muss in Sozialprojekten mitgeholfen werden.
„Am Anfang wurden wir auf dem riesigen Bauernhof in Polen überhaupt nicht akzeptiert“, erzählt Jill. „Wir haben dann aber begriffen, dass wir auf die Leute überheblich wirken und unser Verhalten ändern müssen.“ Anpacken habe sie gelernt, sagt die junge Frau: „Um sechs Uhr morgens aufstehen, stundenlang auf den Knien jäten oder vier Stunden lang Kartoffeln schälen, ohne Kartoffelschäler, nur mit einem kleinen Messer – das waren neue Erlebnisse.“
Zielländer des JIP sind Polen, Rumänien, Tschechien oder Indien. „Urlaub für straffällige Jugendliche“ nannte die FPÖ die ersten erlebnispädagogischen Projekte und beschäftigte Nationalrat und Landtag mit Anfragen. Zehn Jahre später stößt das sozialpädagogische Jugendintensivprogramm auf breite Akzeptanz.
Jugendliche aus dem Strafvollzug sind eine Minderheit im JIP, die meisten Teilnehmenden haben massive familiäre Probleme, Drogenerfahrung, keinen Job, manche wurden durch kleinere Eigentums- oder Gewaltdelikte auffällig, andere kommen aus der rechtsextremen Szene.
Gerade für diese Jugendlichen sei der Auslandstrip eine besondere Erfahrung, sagt die Pädagogin Stefanie Baasch, die vier Mal Jugendliche nach Indien und Tschechien begleitete: „Rechtsextreme Jugendliche erleben, was es bedeutet, Fremder, Ausländer zu sein.“ Es gehe ihr nicht darum, jemanden „umzukrempeln, sondern einen Anstoß zu geben, die eigene Meinung zu hinterfragen“. So fuhr sie mit Skin-Mädchen nach Auschwitz. „Zur Vorbereitung hab ich ihnen Filme gezeigt, sie immer wieder mit meiner Meinung konfrontiert.“ Es sei Illusion zu glauben, dass jemand, der seit Jahren von einer Ideologie überzeugt ist, nach drei Wochen sagen könne: „Alles ist Müll“. Dennoch ist das Fazit der Osttour mit den rechten Mädeln positiv: „Beide sagen heute, ohne JIP hätten sie immer noch weiße Schuhbänder in den Springerstiefeln.“
Sinnlos: Regeln verordnen Eine JIP-Tour ist kein Pfadfinderlager. Stefanie Baasch: „Die Anfangsphase kann ganz schön schwierig sein. Die Jugendlichen testen aus, wie weit sie gehen können.“ Was die beiden jungen Frauen bestätigen. Jill über die erste Begegnung mit ihrer Betreuerin: „Die war so klein und zart, da haben wir uns gedacht, dass wir die ganz leicht in den Sack stecken können. War aber nicht so, die hat Gas gegeben.“ Nina hatte nicht wirklich Bock auf Indien und Betreuung: „Ich hab mich gesträubt, wollte nicht mitarbeiten. Wirklich bereit war ich eigentlich erst in den letzten Wochen.“ Ihre Erfahrung mit Stefanie: „Die hat nie Druck gemacht, hat sich voll in meine Situation hineinversetzt. Das war ganz anders als daheim. Da war die Betreuung irgendwie geschäftlich.
“ Dennoch war Indien für Nina „ganz sicher nicht der Auslöser, mich zu ändern“. Wieder daheim „war ich gleich wieder im Sumpf“. Ein paar arbeitslose Monate später wollte sie nicht mehr „den ganzen Tag rumsitzen“. Jetzt arbeitet sie in einem Lager und will den Hauptschulabschluss machen, „damit ich endlich auf meinen eigenen Füßen stehe“.
Jill schaffte die Kurve nach dem Polenaufenthalt und begann eine Maurerlehre. „Nach einem Jahr hatte ich wieder einen Hänger, hab’ die Lehre geschmissen.“ Die Reue kam zu spät, der Lehrherr wollte keinen zweiten Versuch. Heute arbeitet Jill, mittlerweile Mutter einer 13 Monate alten Tochter, als Köchin. „Nach vier Jahren Praxis kann ich über das Wifi den Abschluss machen. Und den mach ich auch.“
Mit Bootcamps, wie sie konservative Politiker gerne hätten, ist das Jugendintensivprogramm nicht vergleichbar. Stefanie Baasch: „In Bootcamps werden nur Grenzen gesetzt, man hinterfragt nicht, warum es einem Jugendlichen so schwer fällt, sich an Regeln zu halten.“ Das JIP ermögliche individuelle Betreuungsformen. Es gehe ihr darum, den Jugendlichen, die oft unter unverarbeiteten Gewalt- oder Verlusterlebnissen leiden, zu vermitteln, „dass da jemand ist, der versucht, sie zu verstehen.“
Umfeld verändern 130 Jugendliche, davon etwas mehr als die Hälfte Mädchen, wurden seit August 1997 im JIP betreut. Der überwiegende Teil davon mit sicht- und spürbarem Erfolg für Jugendliche und Eltern. In nur acht Fällen wurden die Betreuungsziele nicht erreicht. Wesentlich für den Erfolg ist das Eltern-Coaching. Während die Jugendlichen auf der großen Reise sind, wird intensiv mit den Eltern in Gruppen- und Einzelsitzungen gearbeitet. Martina Gasser: „Die Jugendlichen kommen verändert zurück, sie brauchen auch ein verändertes Umfeld.“ 88 der Jugendlichen kehrten nach dem Auslandsprogramm in die Familie zurück, darunter auch Nina und Jill.
„Natürlich ist nach dem Auslandsprogramm nicht Friede, Freude, Eierkuchen“, sagt Jills Mutter Gabi, „aber man kann im Gegensatz zu früher miteinander reden“. Die Grundlagen dafür lerne man durch das Eltern-Coaching. Gabi Laner, Mutter von vier Kindern, hat von sich aus beim Institut für Sozialdienste und Jugendamt Hilfe gesucht, als sie mit ihren beiden Töchtern nicht mehr zurechtkam. Gabi Laner: „Wir haben uns bei den Elterntreffen oft gefragt, warum der Kreis so klein ist.“ Frau Laners Antwort: „Die meisten holen sich keine Hilfe, obwohl sie nötig wäre.“
Um den Neubeginn zu erleichtern, Kinder und Eltern vor den gegenseitig hohen Erwartungen zu schützen, bietet JIP für weitere zehn Wochen Trainingswohnungen an. Das Vorarlberger JIP ist mittlerweile Franchisegeber. Das Konzept wurde von Salzburg, Tirol, Oberösterreich übernommen. Finnland zeigt Interesse.
Jutta Berger ist Mitarbeiterin der Tageszeitung
Der Standard in Vorarlberg
Martina Gasser hat über die Erfahrungen von zehn Jahren JIP ein Buch herausgegeben: „1.000 Meilen gegen den Strom, Neue Wege im Umgang mit Jugendlichen und deren Eltern in chronifizierten Krisen“, Martina Gasser (Hrsg.),
Ziel-Verlag, ISBN 978-3-940 562-05-0