Politiker in die Pflicht nehmen
In Österreich bleibt private Pflege zumeist an Frauen und oftmals an illegalisierten Pflegerinnen hängen. Der Gesundheitsökonom August Österle kennt die wichtigsten Schritte zu einem gerechten Pflegesystem - und dessen Finanzierung. Interview von Ernst Pohn
Die aktuelle Pflegedebatte hat nach langem Wegschauen das Ausmaß des Pflege-Dilemmas öffentlich gemacht. Wie ist es möglich, dass politisch so lange nichts passiert ist? Betrachtet man die Entwicklung der Sozialpolitik in den Wohlfahrtsstaaten, war Pflege lange Zeit ein vernachlässigtes Thema. Im Umgang mit Krankheit, Arbeitslosigkeit oder den Pensionen haben die europäischen Länder ein hohes Maß an sozialem Schutz erreicht. Die Langzeitpflege blieb immer im Schatten dieser Themen.
Staatliche Unterstützung gab es nur für finanziell Schwache. Die Einführung des Pflegegeldes 1993 war ein erster großer Schritt.
Zeigt Österreich hier nicht ein auffällig konservatives Gesellschaftsbild, da die Verantwortlichkeit für Pflege nach wie vor der Familie zugeordnet wird?
Ja, Österreich hat auch im europäischen Vergleich ein stark familienorientiertes Wohlfahrtsmodell. Die Vorstellung, dass die Familie eine zentrale Rolle in der Betreuung übernimmt, gilt bis heute. Das Pflegegeld als reine Geldleistung, die nicht an bestimmte soziale Dienste gebunden ist, unterstützt diese Auffassung. Das Pflegegeld kann auch einen Anreiz schaffen, die Erwerbsarbeit aufzugeben, um sich ganz der Pflege der Angehörigen zu widmen.
Letztendlich sind es aber Frauen, an denen die Pflegearbeit hängen bleibt.
Das ist richtig. In rund 80 Prozent der Fälle werden die Betreuungsaufgaben von Frauen übernommen.
Frauen pflegen, während der Mann seiner Erwerbsarbeit weiter nachgeht. Was bedeutet diese Benachteiligung konkret?
Das bedeutet eine enorme physische und psychische Belastung, die zeitlich nicht absehbar ist. Zudem leidet die soziale Absicherung der Frauen darunter und auch der Wiedereinstieg ins Berufsleben. Das Pflegegeld kann zwar finanzielle Erleichterung bringen, muss aber nicht zur Entlastung in der Pflegearbeit selbst beitragen.
Und wie könnten Frauen entlastet werden?
Durch ein ganzes Bündel an Maßnahmen. Im privaten Betreuungsfall müsste die soziale Absicherung garantiert werden, so dass keine Versicherungszeiten für die Pension verloren gehen. Des Weiteren ist Unterstützung für die eigentliche Pflegearbeit notwendig. Ich denke da an zusätzliche soziale Dienste, aber auch an die Möglichkeit einer vier- oder fünfwöchigen „Freistellung“. Für diese Zeit kann dann eine Pflegevertretung finanziert werden. Es geht also darum, das derzeitige Geldleistungssystem mit verschiedenen sozialen Diensten zu kombinieren, auf die auch Rechtsanspruch besteht. Wir müssen Pflegebedürftigkeit, so wie etwa Krankheit, viel umfassender als soziales Risiko anerkennen.
Konkret: Welche entlastenden sozialen Dienste könnten das sein?
Am Beginn müsste Beratung stehen: Wie weit kann im konkreten Fall die Pflege tatsächlich privat übernommen werden? Wo ist professionelle Unterstützung notwendig? Dann folgt die Einstufung des Pflegegeldes: Welche zusätzlichen Betreuungsleistungen können genutzt werden? Hier fehlt es an kostengünstigen Angeboten, mit denen ein Netz an mehrstündiger Betreuung sichergestellt werden kann. Solche Angebote müssen vor allem auch leistbare Alternativen bieten – zwischen einer stationären Betreuung, den 24-Stunden-Modellen und der privaten Betreuung in der Familie.
Wir sprechen immer noch von einem Modell, bei dem vor allem Frauen pflegen. Was ist mit den Männern, wie können sie in die Verantwortung genommen werden?
Um Männer stärker zu involvieren, müssen sich Einstellungen ändern und Anreize geschaffen werden. Männer pflegen heute vor allem dann, wenn Partnerinnen Betreuung benötigen oder wenn sie bereits pensioniert sind. Im Erwerbsalter pflegt kaum ein Mann. Wichtig ist, Leistungen und Betreuungsangebote so zu gestalten, dass sich Erwerbstätigkeit mit familiären Betreuungsleistungen kombinieren lässt. Der Druck, ein solches Pflegesystem anzubieten, wird allein deshalb steigen, weil die Menschen immer länger arbeiten müssen.
Momentan sind wir von einem gerechten Pflegesystem meilenweit entfernt: Den Job der 24-Stunden-Betreuung übernehmen oft Pflegerinnen aus Osteuropa, zur Kostenersparnis nicht angemeldet, also illegalisiert. Sie sollen zwar einen legalen Status erhalten, aber zu unerhört niedrigen Löhnen. Ist das für Sie in Ordnung?
Es ist nachvollziehbar, dass sich das so entwickelt hat. In Südeuropa gibt es diese Entwicklung schon sehr viel länger. Das ist eine Konsequenz aus Angebot und Nachfrage. Durch das Pflegegeld sind einerseits Mittel vorhanden, um für Pflege zu bezahlen, wenn auch nicht jene Honorare, die für die Inanspruchnahme von sozialen Diensten notwendig wären. Auf der anderen Seite gibt es speziell bei Personen aus dem Osten die Bereitschaft, diese Arbeit für wenig Geld zu übernehmen.
Mit der Legalisierung dieser niedrigen Gehälter ist aber eindeutig eine Ungleichheit vor dem EU-Gesetz gegeben.
Bei einem Angestelltenverhältnis sind die Löhne nun mit dem Hausbetreuungsgesetz geregelt, darin ist ein Mindestlohn verankert. Bei den Selbständigen ist das eine andere Sache. Theoretisch könnten aber auch Österreicher und Österreicherinnen diese Arbeiten für so wenig Geld machen, nur findet sich kaum jemand dafür. Ganz grundsätzlich gibt es mehrere Branchen, in denen die Löhne niedrig und die Arbeitsbedingungen schlecht sind. Dort finden Sie zumeist Personen mit nicht-österreichischer Staatbürgerschaft. Das Grundproblem liegt doch darin: Es wird bei der Pflege versucht, ein Finanzierungsproblem über einen großen Lohndruck zu lösen.
Psychische und physische Belastungen werden also mit ein paar Euro abgegolten. Haben die MigrantInnen überhaupt die Möglichkeiten, mehr zu fordern?
Das ist schwierig. Der vollzogene Schritt zur Legalisierung hat schon eine Verbesserung gebracht, die Illegalität ist ja damit weggefallen. Die Betreuungspersonen können damit den Schwarzmarktbereich verlassen und bekommen so größeren Schutz im Rahmen des Arbeits- und Sozialrechts.
Woran scheitert es denn, gerechte Löhne zu zahlen?
Würden die Löhne in der 24-Stunden-Betreuung nach oben hin angeglichen, ohne die Rahmenbedingungen zu ändern, wäre diese Betreuung für die Österreicher nicht mehr leistbar. Dann würden wieder illegale Lösungen gesucht.
Der Ausweg?
Wie gesagt: Zusätzlich zum Pflegegeld müssten soziale Dienstleistungen in einem größeren und leistbaren Ausmaß angeboten werden. Dann sinkt auch der Druck, private Arrangements zu finden.
Blickt man über die Grenzen, so gibt es besonders in Skandinavien funktionierende Pflegemodelle. Kein Vorbild?
In Österreich ist Pflege eine private Verantwortung, die vom Staat unterstützt wird, in Skandinavien wird Pflege als gesellschaftliche Verantwortung wahrgenommen. In den skandinavischen Ländern gibt es außerdem einen starken Fokus auf soziale Dienste, in Österreich steht das Pflegegeld im Mittelpunkt. Sich an Skandinavien zu orientieren ist aber auf alle Fälle hilfreich.
Es wird ständig so getan, als wäre ein gerechtes Pflegesystem keine Option, weil nicht finanzierbar. Stimmt das?
Das ist eine Frage des politischen Willens. Der Anteil der öffentlichen Pflegeausgaben liegt in Österreich bei 1,3 Prozent des BIP, in Schweden bei 3,3 Prozent. Verglichen mit Ländern wie Schweden oder Dänemark, die ein hohes Niveau an Pflegeangeboten haben, müsste das Budget in Österreich also zumindest verdoppelt werden.
Woher könnte dieses zusätzliche Geld kommen?
Vorstellbar wäre, einen Pool oder Fonds aus verschiedenen Quellen zu finanzieren. Ich denke da an eine Mischung aus geringen Beiträgen des Sozialversicherungssystems und einer stärkeren Nutzung von Steuerquellen. Adäquat wäre eine neue Form der Vermögens- bzw. der Vermögenszuwachssteuer.
Also eine Umverteilung?
Und zwar unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit. Wird jemand pflegebedürftig, fließt ein beträchtlicher Teil seines Vermögens in die Finanzierung dieser Pflege. Wer gesund bleibt, erspart sich diese Ausgaben, kann also sein gesamtes Vermögen vererben. Damit herrscht aber ein großes Ungleichgewicht zwischen jenen, die Pflegearbeit in Anspruch nehmen müssen, und jenen, die ihr ganzes Vermögen steuerfrei vererben können. In Österreich liegt die Besteuerung der Vermögen ohnehin auf einem niedrigen Niveau, da wäre also einiges machbar.
Warum wird das nicht umgesetzt?
Das ist ein überfälliger Schritt. Den Betroffenen selbst fehlt es aber am nötigen Lobbying. Pflegebedürftige Personen können ihre Anliegen noch am ehesten über die Behindertenverbände vorbringen, die scheinen stärker an Pensionen als am Pflegethema interessiert zu sein. PflegerInnen aus dem Ausland und den Angehörigen selbst – also vor allem Frauen – fehlt aber jegliche Lobbying-Möglichkeit.
Sie halten die Finanzierung eines gerechten Pflegesystems also für absolut möglich?
Ich kann nur wiederholen: Es liegt nicht an der Leistbarkeit, sondern am politischen Willen, die Situation zu ändern.